Foundation | Welcome

Menu


Kommentar: Brexit – verlässt Großbritannien die EU?

Gemessen am nominellen GDP ist Großbritannien die 7. größte Volkswirtschaft der Welt. Nummer 8, gemessen an der Kaufkraft (PPP). In Europa rangiert es hinter Deutschland und Frankreich auf Rang 3 (GDP), respektive Rang 2 (PPP). Das GDP per Capita notierte in 2011 auf Rang 20 im weltweiten Vergleich.

Markus Schuller

Neben der Mitgliedschaft im Commonwealth, unterhält UK auch jene in der EU, der G7, G8, G20, IMF, OECD, Weltbank, WTO und den UN. London übernahm 2008 den Rang als wichtigste Finanz- metropole der Welt, noch vor New York. Kurz, das Mutterland der industriellen Revolution ist immer noch eine der führenden Wirtschaftsnationen der Welt.

Großbritannien war seit Margret Thatcher in einer volkswirtschaftlichen Position, sich innerhalb der EU als benötigter marktliberaler Außenseiter im Spiel halten zu können. Nun hat sich das Blatt gewendet. Das Land muss sich volkswirtschaftlich neu erfin- den. Weiß aber noch nicht wie. Was ist passiert?

Hierzu hilft ein erster Blick auf die größten Sektoren der UK Volkswirtschaft. Hervor- zuheben sind die Kleinheit der produzierenden Industrie (Manufacturing) mit 11,1% - Deutschland ca 24% - die Größe der Financial Services mit 10% und die Dominanz des Immobiliensektors mit 23.8%.

Ähnlich wie die USA („The Roaring Nineties“, J. Stiglitz), profitierte UK von einem Superzyklus, der zwischen der letzten großen Rezession 90/91 und der Great Recession 08/09 15 Jahre durchgehenden Quartalswachstums ermöglichte. Dieser wurde überwiegend durch den Privatkonsum getragen. Auch hier eine Parallele zu den USA.

Anders als in Deutschland, in dem speziell 2011 die Konsumenten die Recovery trugen, halten sich jene in UK nun zurück. Die Sparrate verharrt auf dem höchten Stand seit über 20 Jahren. Die Regierung konterte den Nachfrageausfall mit Keynes´scher Politik.

Dementsprechend massiv fiel das Budgetdefizit aus. 2009 und 2010 wurden jeweils mit Budgetdefiziten von über 10% abgeschlossen.

Gleich jenem in den USA, befindet sich auch der UK Konsument in einem anhaltenden Deleveraging Prozess. Deleveraging gilt als Motto für das ganze Land. Folgt man der kürzlich upgedateten McKinsey Studie “Debt and Deleveraging”, ist Großbritannien, gemeinsam mit Japan, die mit Abstand am höchsten verschuldete Volkswirtschaft der Welt (Haushalte+Unternehmen+Staat). Der zuvor angesprochene Superzyklus wurde durch massive Kreditexpansion erkauft. Wachstum auf Pump.

Anders als in den USA, verzeichnet UK bis dato nichtmals eine unterdurchschnittliche Recovery aus der tiefen Financial Recession der letzten Jahre.

Wir nannten den sich entschuldenden Konsumenten als einen Grund für die fehlende Dynamik. Er ist aber nicht der einzige.

Großbritannien unter Thatcher baute auf zwei Leuchtturm-Industrien: Financial Services und Commodities (Oil/Gas).


Financial Services
Die Wette UKs, sich auf Financial Services als ökonomische Kernkompetenz zu fokussieren, wird an der Reihung der Überschussquellen in der Handelsbilanz sichtbar. Hier rangieren die Services mit großem Abstand auf Rang 1.

Das Problem dabei: Der trickle-down-effect der City via Beschäftigungsverhältnissen ist seit 2006 (!) rückläufig.

Commodities
Neben dem Ruf der City als tragende Säule der UK Wirtschaft, hält sich ein zweites Narrativ, nämlich jenes über die Stärke Großbritanniens als fossiler Rohstoff Produzent. Zweifellos profitierte die britische Wirtschaft in den 1980er und 1990ern von den großen Öl- und Gasvorkommen in der Nordsee. Doch änderten sich im letzten Jahr- zehnt die Vorzeichen. Aus einem Nettoexporteur des schwarzen Goldes wurde 2004 ein Nettoimporteur. Der Grund dafür? Die rückläufige Produktion.

Die Ölproduktion sank von 140 Mio. Tonnen (1999) auf knapp über 60 Mio. Tonnen (2010). Dieser massive Abfall wiederum begründet sich mit den rasch abschmelzenden Ölreserven des Landes.

Zusammengefasst, verlor die britische Rohstoffindustrie im<link http: www.decc.gov.uk assets decc statistics publications dukes> letzten<link http: www.decc.gov.uk assets decc statistics publications dukes> Jahrzehnt an Bedeutung. Sie repräsentierte im Jahr 2010 lediglich 3.9% des GDPs, 9,9% der industriellen Investitionstätigkeit und hielt bei einer Beschäftigungszahl von 173.000 (=7% der Industriebeschäftigten).

Obwohl UK nach Norwegen immer noch als zweitgrößter Öl und Gasproduzent in Europa rangiert, ist dieser britische Sektor „another dying industry“. Von ihr kann kein Wachstumsimpuls zur nachhaltigen Recovery erwartet werden. Der frühzeitige Einstieg in die große Alternative – Renewable Energies – wurde verschlafen. Hier folgt sie dem europäischen Durchschnitt, setzt aber keine Zeichen, daraus eine neue Kernkompetenz erwachsen lassen zu wollen.


UK als EU-Mitglied
Auf Basis dieser anhaltend ökonomischen Schwäche und Orientierungslosigkeit in der Suche nach ökonomischen Wachstumstreibern, ergeben sich Implikationen für das Verhältnis des Landes mit der EU. Diese gehen über rhetorisches Geplänkel auf der Insel hinaus, mit dem Cameron seine eigenen Parteigänger zu befrieden versucht.

Die Weichen in der EU stehen auf vertiefende Integration. Dieses Committment entspringt einer marktinduzierten Erkenntnis über deren Notwendigkeit, sofern das Institutionengebilde stabil gehalten werden soll.

Aus dieser existenziellen Lage heraus, gibt es in Brüssel kaum noch Verständnis, auf die Empfindsamkeiten Großbritanniens Rücksicht zu nehmen. Und dies zu Recht.


Wie stark UK tatsächlich bereits an politischem Gewicht in Brüssel verloren hat, zeigen die gegenwärtigen Verhandlungen zur Bankenunion. UK will die EBA (Sitz in London) mit möglichst vielen Kompetenzen ausstatten. Brüssel setzt auf die ECB als zentrales Koordinationsinstrument. Nach vorläufigem Verhandlungsstand, darf die EBA zuarbeiten und vorbereiten, die ECB wird aber das Machtzentrum in der gemeinsamen Aufsichts- struktur bilden.

Britische Kommentatoren zeichnen derzeit gerne Schreckensszenarien an die Wand, dass bei einer 3-Tier-EU, also einer Gemeinschaft der 3 Geschwindigkeiten, der gemeinsame Binnenmarkt in Gefahr sei. Unwahrscheinlich. Deutschland und Frankreich sahen lediglich ein, dass ein stetes Zuwarten auf ein britisches „GO“ zu lähmend wäre, um die notwendigen Integrationsschritte umzusetzen. Gut so. Es zeichnet sich zunehmend eine EU der 2 Geschwindigkeiten ab, nämlich zwischen integrationswilligen- und unwilligen Mitgliedern.

Noch konkreter, zwischen EU26 und UK. Dank seiner ökonomischen Stärke und politischen Signale der Entspannung, zog Deutschland Polen zuletzt auf seine Seite. Ein treuer Partner der Briten ist damit abhanden gekommen. Auch hängt Irland zu stark am Goodwill der internationalen Gemeinschaft (EFSF und IMF), als dass es den Briten zur Seite stehen könnte. Schweden und Holland sind durchaus in Handels- und Marktfragen mit UK einer Meinung, doch positionierten sich beide klar pro Integration. Die in der letzten Woche beschlossene Regierungskoalition in Holland könnte auch den Namen „Austerity-Coalition“ tragen, und liegt damit auf deutscher Linie. Tschechien als UK Partner ist unberechenbar und eher auf Krawall, denn auf substanzielle Debattenbeiträge aus.


Was passiert nun?
Ich zitiere Hermann Sileitsch vom Dezember 2011 in der Wiener Zeitung: „Dass die Briten einen großen Schwenk vornehmen und zu Parade-Europäern mutieren, ist unwahrscheinlich: Zu sehr sind sie abhängig von ihrem hypertrophen Finanzzentrum London. Für Drohszenarien sind sie aber in einer schlechten Position. Bleiben die Kontinentaleuropäer hart, müssten sie den Briten konsequenterweise die Tür weisen.“

Den Briten wird wohl nicht die Tür gewiesen. Vielleicht öffnen sie diese selbst. Die Anti-EU-Stimmung in UK wird an der Debatte über ein mögliches Austritts-Referendum sichtbar. Mehr als 2/3 der Briten wollen darüber abstimmen. Je nach Umfrage, ergibt sich im Falle einer Abstimmung eine Mehrheit für oder gegen einen Austritt. Hier sind die Würfel noch nicht gefallen.

Wir gehen davon aus, dass im Fall eines Referendums, die pro-europäischen Kräfte auf der Insel stark zu lobbyieren beginnen würden. Deshalb gehen wir auch davon aus, dass UK die sich abzeichnende Junior-Rolle als EU Mitglied akzeptieren wird.

Weshalb? Ratio vor Stolz. Auf Sicht gesehen, können es sich die Briten volkswirtschaf- tlich nicht leisten, aus der EU auszutreten. Die ökonomische Robustheit Zentraleuropas, bei gleichzeitigem Veränderungsdruck im Institutionengefüge ergibt in Summe eine gestiegene Visibilität der schwachen UK-Position.
Diese führt zwar zu nationalistischen Reflexen auf der Insel. Siehe Hague´s pointy message to EU: "In July, for first time, British trade with rest of world outstripped our trade with rest of EU". Well, my dear Hague, if it was only that easy...

Letztendlich kann Deutschland UK als marktliberalen Partner gegen Frankreich weiterhin gut gebrauchen. Ein Beispiel bildet derzeit die Debatte um den EU Haushalt 2014-2020. Deutschland steht in der Mitte und verwendet die Extremposition der Briten um gegen die von Frankreich und den Südländern geschmiedete Achse verhandeln zu können.

UK als dienlicher Juniorpartner Deutschlands. Wohl nicht der Beginn eines zweiten Elisabethanisches Zeitalters, aber mehr ist für die Briten derzeit nicht möglich.