Unterinvestitionen in der „Old Economy“
Die Pandemie hat offenbart, dass wichtige Bedürfnisse in einigen der grundlegendsten traditionellen Branchen nicht befriedigt werden können. Allmählich stellt sich heraus, dass eine strukturelle Angebotsknappheit herrscht.
Der Grund hierfür sind jahrzehntelange unzureichende Investitionen in die „Old Economy“. Dies befördert, wenn auch mit Verzögerung, das Wiederaufleben der Inflation, während Überinvestitionen in die so genannten „New Economy“ einige Branchen finanziell aufgebläht haben. Die Unterinvestition in der „Old Economy“ hat ihre Ursache in einer Kombination aus niedrigen Kapitalzinsen und der Forderung nach üppigen Eigenkapitalrenditen.
Auswirkungen des Aktionärsregimes
Letzteres ist ein zentrales Element des „Aktionärsregimes“. Die Konzentration auf die Erzielung einer hohen Eigenkapitalrendite ging Hand in Hand mit einer Bevorzugung von Finanzgeschäften, wie beispielsweise einer hohen Dividendenpolitik, Aktienrückkaufprogrammen und Fusionen und Übernahmen – die häufig durch Schulden finanziert wurden – auf Kosten von Investitionsausgaben und auch Löhnen. Steigende Preise von Vermögenswerten auf den Finanzmärkten haben, da sie eine Komponente der Kapitalrendite waren, die Struktur des Kapitalangebots in Richtung Finanzkapital und nicht in Richtung realer Projekte verschoben. Die Renditeerwartungen an das Sachkapital der Unternehmen konnten vor dem Hintergrund eines moderaten Wirtschaftswachstums nicht mit denen an das Finanzkapital mithalten.
Hinzu kamen die künstlich niedrig gehaltenen Kapitalkosten in Folge einer zu lockeren Geldpolitik. Die geringen Kapitalkosten führten zu einer Bevorzugung bestimmter Waren und Dienstleistungen und der damit verbundenen Vermögenswerte, zum Beispiel im Bereich der Technologie und wohl auch des Wohnungsbaus. In einigen Bereichen der „New Economy“ wurde über- und fehlinvestiert. Hierzu zählt die Internetblase im Jahr 1999 sowie der Tech-Hype zwischen 2015 und 2021. Die niedrigen Kapitalkosten verschleierten zudem die mangelnde Überlebensfähigkeit einiger Geschäftsmodelle in überinvestierten Branchen.
Eine schnelle Lösung des Problems durch die rasche Steigerung der Investitionen in die „Old Economy“ wird es wohl nicht geben. Es wird Zeit brauchen, um Denkweisen zu ändern, die tief in der bisherigen Unternehmenskultur verankert sind.
Das chinesische Modell emanzipiert sich
Gestützt wurde das Aktionärsregime durch das chinesische Modell. Dessen Schwerpunkt bestand in der Anhäufung von Devisenreserven, um die Unterbewertung der Währung zur Unterstützung des Exports künstlich aufrechtzuerhalten. Die Reserven spielten eine wichtige Rolle bei der Senkung der weltweiten risikofreien Zinssätze durch den Kauf westlicher Schulden insbesondere in den USA zur Finanzierung des Leistungsbilanzdefizits, noch bevor die westlichen Zentralbanken mit der quantitativen Lockerung begannen.
Die künstliche Senkung der Marktzinsen und damit der Diskontsätze wurde vom Westen irrigerweise als strukturelles, dauerhaftes Merkmal der globalen Wirtschaft angesehen. Dadurch wurden die Geld- und Haushaltspolitik zu höheren Schulden und niedrigeren Leitzinsen verleitet.
Darüber hinaus brachte die chinesische Plattform, deren Ziel eher in der Ansammlung von Input – also Arbeit, Kapital und Anlageinvestitionen – als in der reinen Steigerung der Kapitalrendite lag, Überkapazitäten hervor und exportierte deflationäre Dynamiken. Im Westen trug dies dazu bei, die Produktionskapazitäten zu bremsen, da andere diese Aufgabe übernahmen, und veranlasste die Zentralbanken zu noch mehr Entgegenkommen.
Allmählich und Schritt für Schritt emanzipiert sich das chinesische Modell jedoch, sowohl bezüglich der Struktur des Bruttoinlandsprodukts, wie die Verlagerung auf die Binnennachfrage, als auch im Hinblick auf die Geopolitik, Stichwort Spannungen mit den USA. Für den Westen bedeutet dies eine höhere Inflation und steigende Zinssätze.
Am Anfang einer neuen Ära
Die Veränderungen setzen zudem Kräfte der Fragmentierung im geldpolitischen Raum frei. Jedes Land entwickelt seine eigene Strategie. Der geldpolitische Konsens mit einem regelbasierten Geldsystem und homogenen Satz von Grundsätzen, unabhängige Zentralbanken, ein Instrument, ein objektives Modell, ist zerbrochen.
Uns erwartet eine Ära sinkender finanzieller Erträge, geringeren Wachstums, höherer Inflation, steigender Löhne und zunehmender Kapitalkosten, verbunden mit einem massiven Bedarf an Investitionen. Allein, um die Energiewende in einer Zeit zu finanzieren, in der sich die globalen Wertschöpfungsketten insbesondere aus Sicherheits- und Souveränitätsbedenken verkürzen, ist viel Sachkapital erforderlich.
Das Hauptrisiko in dieser Ära ist die Stagflation – Rezession und Inflation. Die wirtschaftlichen Chancen liegen in der „Old Economy“.
Anlegen im neuen System
Der Druck auf die inländischen Ersparnisse im Westen wird zunehmen und damit auch der Druck auf die Zinssätze, da weniger externes Finanzkapital zur Verfügung steht. Das neue, inflationärere Regime mit geringeren Renditen auf den Vermögensbestand und höheren Renditen auf das Sachkapital wird mit einer Neugewichtung von Arbeit und Kapital zugunsten der Arbeit einhergehen.
Für die Anleger hat dies weitreichende Folgen:
1. Die bisherigen Eigenkapitalrendite-Ziele werden keinen Bestand haben. Höhere Löhne, mehr Investitionen und hohe Eigenkapitalrenditen können nicht nebeneinander bestehen. Ein System, das sich rasch in Richtung höherer Inflation, höhere Kapitalkosten und der Notwendigkeit von Investitionen für die Energiewende bewegt, erfordert eine Änderung der Ertragserwartungen.
2. Wenn die Zentralbanken die Inflation nicht ernsthaft bekämpfen und die Realzinsen nicht an den erforderlichen Stellen erhöhen, bleibt für risikoreiche Anlagen mehr Zeit. Dies wird jedoch nichts am Endergebnis ändern: Entweder werden Investoren gezwungen sein, trotz niedriger Realzinsen Anleihen zu kaufen und folglich risikoreichere Vermögenswerte zu verkaufen oder die Marktkräfte werden die Bewertungen letztendlich drücken.
3. Abzuwarten bleibt, ob zuerst die Vermögensblase platzt oder der Inflationszyklus sich entfaltet. Das Ende der Vermögensblase kann den Inflationszyklus der Realwirtschaft stoppen, aber der Inflationszyklus kann andererseits die Vermögensblase aufrechterhalten. Am wahrscheinlichsten treten beide Ereignisse gleichzeitig ein, da die Inflationsdynamik durch das Platzen einer auf einen begrenzten Bereich der Weltwirtschaft beschränkten Blase kaum zum Stillstand gebracht werden dürfte. Dennoch müssen die Anleger bei ihrer Portfoliokonstruktion die drei Optionen im Auge behalten.
4. Die globale Fragmentierung und das Ende des globalen Währungskonsenses werden von der Rückkehr internationaler Diversifizierungsvorteile begleitet. So wird sich die Korrelation der Länderrenditen vermindern.
5. Anleger sollten mit einer Änderung des Diskontierungsfaktors rechnen, die von der Art und Weise abhängt, auf die die finanzielle Repression zur Senkung der staatlichen Finanzierungskosten durchgeführt wird; von der Begrenzung der nominalen Zinssätze bei einem niedrigen Inflationsniveau bis hin zur Begrenzung der realen Zinssätze, um die Inflation steigen zu lassen. Wachstums- und Technologiewerte waren die Gewinner des vorherigen Systems. Value-Aktien sind die des neuen. Anleger sollten zudem stärker auf die Nachhaltigkeit der Geschäftsmodelle der Unternehmen und deren Fähigkeit, unter einem Hochinflationsregime zu wachsen, achten.
6. Bei den Devisen ist nicht zu erwarten, dass das bisherige System der Reserven der asiatischen Zentralbanken die unzureichenden Ersparnisse der USA ausgleicht. Die Anleger sollten sich auf viele Fehlanpassungen und Spannungen einstellen, bevor sich möglicherweise eine neue, wahrscheinlich weniger US-Dollar-zentrierte Ordnung herausbildet.
---
*) Pascal Blanqué, Chairman des Amundi Instituts