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Kommentar: Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes – ein effizienterer Mechanismus zur Durchsetzung von Schadensersatz-ansprüchen geschädigter Anleger in Deutschland?

Der Bundestag hat am 13. Juni 2024 eine Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes („KapMuG“) beschlossen. Die Änderungen sollen noch vor Ablauf des 31. August 2024 in Kraft treten und ab diesem Zeitpunkt für neu eingehende Kapitalanleger-Musterverfahren („Musterverfahren“) gelten. Dieser Beitrag beschreibt die wichtigsten Änderungen und erörtert deren Bedeutung für Anleger.

Dr. Malte Stübinger

Dr. Benedikt Kaneko

Hintergrund
Das KapMuG wurde im Jahr 2005 eingeführt, weil die Zivilgerichte mit tausenden Einzelklagen von Anlegern auf Schadensersatz wegen angeblicher Prospektmängel im Zusammenhang mit dem Börsengang der Deutschen Telekom AG überlastet waren. Mit dem Musterverfahren hat der deutsche Gesetzgeber erstmals eine kollektive Rechtsschutzmöglichkeit für kapitalmarktrechtliche Streitigkeiten in Deutschland geschaffen.

Voraussetzung für die Einleitung eines Musterverfahrens ist, dass in mindestens zehn individuellen Schadenersatzprozessen wegen fehlerhafter Kapitalmarktinformationen Anträge auf Einleitung eines Musterverfahrens gestellt werden. Das Musterverfahren wird dann als eigenständiges Verfahren vor dem Oberlandesgericht geführt, das die übergreifenden Sach- und Rechtsfragen für alle Verfahren einheitlich und mit bindender Wirkung feststellt. Nach Abschluss des Musterverfahrens entscheiden die vorlegenden Ursprungsgerichte unter Berücksichtigung der Feststellungen des Musterverfahrens über den individuellen Schadensersatzanspruch.

Die derzeit anhängigen Musterverfahren sind der lebende Beweis dafür, dass eine Reform des KapMuG dringend erforderlich war. Sie haben sich als kompliziert, langwierig und kostenintensiv erwiesen. Die bisherigen Änderungen des KapMuG reichten nicht aus, um dies zu verbessern. Beispielsweise führt die Deka Investment GmbH als Musterklägerin mit weiteren Beigeladenen (z.B. dem California State Teachers‘ Retirement System) seit September 2019 ein Musterverfahren gegen die Volkswagen AG und die Porsche Automobil Holding SE vor dem Oberlandesgericht Braunschweig. Eine Beweisaufnahme in dem Verfahren begann im September 2023, umfasst 85 Beweisfragen und sieht eine Vernehmung 86 Zeuginnen und Zeugen vor. Ein Ende ist per Juli 2024 noch nicht in Sicht.

Schnellere Verfahren
Die Änderungen zielen darauf ab, die Schwachstellen der Musterverfahren zu beseitigen: Ineffizienz, Dauer und Kosten der Verfahren. Künftig können die Oberlandesgerichte stärker auf die zu entscheidenden Sach- und Rechtsfragen Einfluss nehmen und zu Beginn des Musterverfahrens durch einen Eröffnungsbeschluss die Ziele des Musterverfahrens festlegen. So soll das Gericht den Klageumfang auf die relevanten Fragen beschränken. Die Besonderheit besteht darin, dass das Oberlandesgericht den Streitstoff reduzieren und die Ziele des Musterverfahrens neu definieren kann. Dabei kann das Oberlandesgericht den Streitstoff sinnvoll abschichten, also etwa eine bestimmte Reihenfolge oder Priorisierung der Feststellungsziele vorsehen, einschließlich der Möglichkeit, Teilmusterentscheide zu erlassen.

Parallelverfahren und Aussetzung des Verfahrens
Die Einleitung eines Musterverfahrens bei gleichzeitiger Aussetzung des Ausgangsverfahrens ist bislang nur möglich, sofern die Entscheidung des zugrunde liegenden Rechtsstreits von den geltend gemachten Feststellungszielen abhängt. Gleiches gilt für die Aussetzung eines Verfahrens, um den Beitritt eines Klägers zu einem anhängigen Musterverfahren als Beigeladener zu ermöglichen. Beigeladene sind informierte Dritte mit eigenen Verfahrensrechten, vollem Akteneinsichtsrecht und dem Recht, Schriftsätze einzureichen und an den mündlichen Verhandlungen mitzuwirken.

Die bisherige Praxis, dass das erstinstanzliche Gericht sämtliche für den Anspruch wesentliche Fragen, die nicht im KapMuG-Verfahren anhängig sind, klären muss, bevor es aussetzen darf, war wenig effizient und benachteiligte insbesondere internationale institutionelle Anleger, die in Deutschland Schadensersatzansprüche geltend machten. Sie führte zu langwierigen Verfahren mit Beweisaufnahmen zur Klärung der Frage, ob ein Investmentfonds wirksam gegründet und vertreten ist, bevor die erstinstanzlichen Gerichte das Verfahren aussetzen und den Ausgang des Musterverfahrens abwarten konnten. Teilweise war das Musterverfahren zwischenzeitlich sogar schon abgeschlossen.

Der Gesetzgeber hat die Erfordernis, dass das Ergebnis des Musterverfahrens einen konkreten Einfluss auf das erstinstanzliche Verfahren haben muss, nun gelockert. Das Gesetz stellt nunmehr klar, dass die „Entscheidung des Rechtsstreits voraussichtlich von den Feststellungszielen des Musterverfahrens“ abhängen muss, damit das Prozessgericht eine Aussetzung anordnen kann. Für die voraussichtliche Abhängigkeit genügt eine Prognoseentscheidung des Prozessgerichts. Dies dürfte zu einer erheblichen Beschleunigung der Ausgangsverfahren beitragen.

Künftig sollen ferner nur noch solche Verfahren ausgesetzt werden, in denen ein Antrag auf Durchführung eines Musterverfahrens gestellt wurde oder in denen der jeweilige Kläger die Aussetzung beantragt hat. Beklagte werden kein entsprechendes Antragsrecht mehr haben. Diese Änderung kann zwar dazu führen, dass bestimmte Verfahren effizienter vorankommen, sie ermöglicht aber auch Parallelverfahren, die letztlich zu unterschiedlichen Entscheidungen über dieselben rechtlichen oder tatsächlichen Fragen führen können, wenn die Kläger keine Aussetzung beantragen. Darüber hinaus können Kläger gemeinsam mit ihren Anwälten im Einzelfall entscheiden, ob sie sich an einem anhängigen Musterverfahren beteiligen oder, wenn die eigene Risikoeinschätzung darauf hindeutet, dass ihr Fall bisher sehr gut verlaufen ist, ihr eigenes Parallelverfahren ohne Rückgriff auf das Musterverfahren, separat weiterführen. Wir gehen jedoch davon aus, dass dies nur in bestimmten Fällen eine strategische Option bleiben wird, denn regelmäßig wird die Frage, die dem Oberlandesgericht zur verbindlichen Musterentscheidung vorgelegt wird, auch für die Einzelfälle eine erhebliche Hilfe und Vereinfachung darstellen.

Beweismittel
Das Oberlandesgericht erhält die neue Befugnis, auf Antrag einer Partei der jeweiligen Gegenpartei oder auch Dritten aufzugeben, Beweismittel vorzulegen. Dieser Mechanismus ist im deutschen Zivilprozessrecht sehr ungewöhnlich, da es grundsätzlich keine Offenlegung bzw. Vorlage von Dokumenten gibt und jede Partei selbst dafür verantwortlich ist, die für ihre Anspruchsbegründung/Verteidigung notwendigen Dokumente und Beweise beizubringen. Sie ist jedoch nicht völlig fremd, da sie der deutschen Umsetzung der EU-Kartellschadensersatzrichtlinie entspricht.

Die Befugnis wurde entwickelt, um die inhärente Informationsasymmetrie zwischen den Parteien im Musterverfahren zu verringern. Der Gesetzgeber begründet dies mit der Bündelungswirkung eines Musterverfahrens, um eine effiziente Erledigung der im Verfahren aufgeworfenen Sach- und Rechtsfragen zu gewährleisten. Der Mechanismus hat das Potenzial, die Verfahren für Kläger erheblich zu vereinfachen und das prozessuale Gleichgewicht zwischen Klägern und Beklagten zu verschieben, da die Beweislast in der Regel beim Kläger liegt. Dies wird aber davon abhängen, wie die Richter diesen Mechanismus in Zukunft nutzen. Aus Kartellschadensersatzverfahren wissen wir, dass die Gerichte hier bislang äußerst zurückhaltend sind.

Anwendungsbereich nun auch für Krypto, Ratingagenturen und Wirtschaftsprüfer
Der Gesetzgeber erweitert den Umfang der vom KapMuG erfassten öffentlichen Kapitalmarktinformationen, die einem Musterverfahren zugänglich sind. Nunmehr sind auch Whitepapers zu Kryptoassets im Sinne der Verordnung über Märkte für Krypto-Assets (Verordnung (EU) Nr. 2023/1114 – MiCaR) erfasst, so dass Anleger das KapMuG für Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit ihren Investitionen in Kryptoassets heranziehen können.

Ebenfalls neu erfasst sind Ratings von Ratingagenturen und Bestätigungsvermerke von Abschlussprüfern über Jahres- und Konzernabschlüsse von Emittenten von Vermögensanlagen. Diese Erweiterung des Anwendungsbereichs könnte es Anlegern in Zukunft ermöglichen, Musterverfahren zur Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen gegen Wirtschaftsprüfer und Ratingagenturen einzuleiten.

Ausblick
Ursprünglich hatte der Gesetzgeber noch einen Zeitpunkt festgelegt, zu dem das KapMuG automatisch außer Kraft treten sollte – zu neuartig waren Sammelklagen in Deutschland. Nun hat der Gesetzgeber die automatische Befristung aufgehoben und lediglich eine Evaluierung in fünf Jahren angeordnet. Alles deutet darauf hin, dass Deutschland sich allmählich an kollektive Rechtsdurchsetzung gewöhnt.

Es bleibt abzuwarten, ob die Änderungen ausreichen, um geschädigten Anlegern einen effektiveren Mechanismus zur Durchsetzung ihrer Schadensersatzansprüche zur Verfügung zu stellen. Anhängige Musterverfahren werden hiervon nicht profitieren und weiterhin viel Zeit in Anspruch nehmen. Die Oberlandesgerichte haben nun aber die notwendigen Befugnisse, um neue Musterverfahren deutlich zu beschleunigen. Insbesondere für ausländische institutionelle Anleger, aber auch für alle anderen in Betracht kommenden Kläger, besteht die Hoffnung auf effizientere und kürzere Verfahren.

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*) Dr. Malte Stübinger ist General Counsel Germany beim internationalen Prozessfinanzierer Deminor Litigation Funding in Hamburg, seit 2015 als Rechtsanwalt zugelassen, seit 2021 in Doppelzulassung als Syndikusrechtsanwalt bei Deminor tätig; in seiner Praxis ist er regelmäßig mit KapMuG-Verfahren befasst. Dr. Benedikt Kaneko ist Rechtsreferendar bei Deminor in Hamburg.