Werfen wir einen Blick auf die Verordnung (EU) Nr. 596/2014 oder die „Marktmissbrauchsverordnung“ (MAR) als Beispiel dafür, wie sich die Finanzmarktgesetzgebung – zugegebenermaßen manchmal langsam – entwickelt und in der EU durchgesetzt wird. Sollten Sie an Letzterem zweifeln, wird Sie der Anstieg der Marktmissbrauchs-Sanktionen der ESMA im Jahr 2019 um fast 900% gegenüber 2018 vielleicht überzeugen. Habe ich „langsam“ gesagt? Nun, es ist ein konsultativer Prozess. Dieser Prozess basiert auf den Standards des sogenannten „Lamfalussy2-Prozesses“, der im Jahr 2001 entwickelt wurde und vier Stufen umfasst, die jeweils die entsprechende Phase der Umsetzung von Rechtsvorschriften beschreiben. Phase 1 umfasst das Rahmengesetz, Phase 2 die technischen Umsetzungsstandards, Phase 3 die Leitlinien und Phase 4 schlussendlich die Überprüfung.
Nun zurück zur Marktmissbrauchsverordnung: Die MAR wurde von der EU verabschiedet, um ein einheitliches Niveau an Transparenz und Anlegerschutz auf den Kapitalmärkten in allen Mitgliedsstaaten zu schaffen. Sie gilt für Emittenten auf geregelten Märkten (RMs), Multilateral Trading Facilities (MTFs), Organised Trading Facilities (OTFs), für die Handelsplätze selbst sowie für alle Arten von Brokern. Auf der Instrumentenebene sind Eigenkapitalinstrumente, eigenkapitalähnliche Instrumente und Nicht-Eigenkapitalinstrumente im Anwendungsbereich. Mit anderen Worten: fast alles und jedes.
Mit der Einführung der MAR am 3. Juli 2016 wurde die Pflicht zur Offenlegung von Insiderinformationen von Aktien, die zum Handel an RMs zugelassen sind, auf alle Finanzinstrumente, die unter die MAR fallen, ausgeweitet. Seitdem müssen Emittenten Ad-hoc-Meldungen europaweit verteilen und auch auf der Website für einen Zeitraum von fünf Jahren zur Verfügung stellen. Darüber hinaus müssen diese Informationen an die zuständige NCA, das zuständige Unternehmensregister und ggf. an den Betreiber des Handelsplatzes übermittelt werden.
Mit der MAR wurden auch solche Eigengeschäfte von Führungskräften in den Anwendungsbereich aufgenommen, die außerbörslich ausgeführt werden, und eine verkürzte Meldefrist von drei Geschäftstagen eingeführt, wobei letzteres auch den Handel mit Derivaten und Schuldtiteln umfasst. Zu diesem Zweck wurden die Emittenten auch verpflichtet, eine Liste aller Mitarbeiter mit Führungsaufgaben und der mit ihnen in enger Beziehung stehenden Personen einzureichen. Darüber hinaus wurden Emittenten, einschließlich der in ihrem Auftrag handelnden Personen, gezwungen, Insiderlisten zu führen – Listen aller Personen, die vorübergehend oder dauerhaft Zugang zu Insiderinformationen haben, die regelmäßig aktualisiert werden müssen, wobei die Insider über ihre Pflichten informiert werden müssen.
Die Sanktionen und Bußgelder bei Verstößen gegen Offenlegungspflichten und Insiderregeln wurden drastisch erhöht. Der Versuch der Marktmanipulation war durch die MAR zu einem Straftatbestand geworden. Eine weitere Maßnahme, die dem Prangerprinzip folgt, hat Wirkung gezeigt: Mit der MAR werden alle Sanktionen unter Angabe der Verstöße und der Identität der betroffenen Personen für fünf Jahre auf den Webseiten der NCA öffentlich zugänglich gemacht.
Ohne weiter in die Konsultationsergebnisse eintauchen zu wollen – der im September 2020 veröffentlichte MAR-Review-Bericht umfasst 279 Seiten. In üblicher Weise (die am Ende eines jeden Konsultationsprozesses angewandt wird) werden der rechtliche Rahmen, das Feedback der Marktteilnehmer, Details zu Definitionen, weitere Erkenntnisse und schließlich die Bewertung und Empfehlungen der ESMA zu der jeweiligen Angelegenheit aufgereiht. Am Ende solcher Konsultationsprozesse empfiehlt die ESMA in der Regel Erleichterungen in bestimmten Aspekten, indem sie weitere Leitlinien zur Verfügung stellt, anstatt eine Änderung oder gar Rücknahme der jeweiligen Bestimmungen zu empfehlen – wie es bei der MAR-Bewertung der Fall war. Die Berichte werden dann an die Kommission geschickt, die die Empfehlungen der ESMA in ihrem Bericht an das Parlament und den Rat berücksichtigt, die dann über die Verabschiedung möglicher Überarbeitungen entscheiden.
Dieser Prozess erscheint vielen umständlich. Aber sie sollten sich daran erinnern, dass er ein regulatorisches „Nichts“ abgelöst hat, in dem einige Länder Marktmanipulation nicht einmal als Straftat qualifizierten. Die wichtigsten Erkenntnisse dieses Prozesses, der nach Alexandre Lamfalussy, einem der wichtigsten Architekten der Europäischen Währungsunion, benannt wurde, sind, dass er konsultativ und transparent ist - und dass er darauf abzielt, Rechtssicherheit für eine Gemeinschaft europäischer Märkte zu schaffen, die zusammen die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt darstellen. Es ist an der Zeit, ein bisschen mehr Vertrauen in Europa und seine Institutionen zu gewinnen.
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*) Dr. Alpay Soytürk, LLM, Leiter Compliance bei Spectrum Markets
Kommentar: Vom regulatorischen „Nichts“ zur Marktmissbrauchsverordnung (MAR)

Dr. Alpay Soytürk