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Kommentar: Es ist an der Zeit, Schwellenländer neu zu definieren

In den vergangenen 20 Jahren hat die Globalisierung in den Schwellenländern für beträchtliche Fortschritte und Veränderungen gesorgt. Um diesen Entwicklungen gerecht zu werden, ist eine Neuklassifizierung der Schwellenländermärkte notwendig.

Die Frage, was eigentlich ein Schwellenland ausmacht, beschäftigt mich bereits seit Jahrzehnten. Seit 1989 definiert die Weltbank unter einem Schwellenland einen Staat, dessen Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf höchstens 13.000 US-Dollar beträgt. Allerdings handelt es sich beim BIP um eine rein statistische „Wohlstands“-Kennzahl. Denn ein Land mit einem Pro-Kopf-BIP von 12.999 US-Dollar unterscheidet sich deutlich von einem Staat mit einem BIP von 1.500 US-Dollar pro Kopf. Es ist unschwer zu erkennen, dass die Definition der Weltbank viel zu kurz greift. Um den Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte gerecht zu werden, bedarf es einer neuen, komplexeren Methodik, die einzelnen sogenannten Schwellenländer einzustufen. Daher haben wir uns folgende Fragen gestellt: Welche weiteren Kriterien neben dem BIP machen die „Reife“ eines Landes aus? Gibt es objektivere Möglichkeiten, einzelne Staaten zu analysieren und zu kategorisieren? Sollte man Länder nicht differenzierter betrachten als lediglich zwischen „Industriestaaten“ und „Schwellenländern“ zu unterscheiden?

Wichtig erschien uns, eine Vielzahl unterschiedlicher Indikatoren zu berücksichtigen, um so eine Rangfolge auf Basis der sozioökonomischen Reife jedes einzelnen Landes zu erhalten. Mit Hilfe der Ward-Methode haben wir daher etwa 100 Länder untersucht (sowohl Industrienationen als auch Schwellenländer) und in 10 Gruppen unterteilt. Bei der Ward-Methode handelt es sich um einen quantitativen Ansatz, der auf eine Klassifizierung anhand der Mindestabweichung einzelner Kriterien abzielt – also eine Gruppierung von Elementen, deren Eigenschaften sich statistisch betrachtet am ähnlichsten sind. In Gruppe 10 sind jene Staaten enthalten, die bei neun spezifischen Kriterien die höchste Punktzahl erhalten haben. Diese können als die reifsten Länder betrachtet werden, die sich im Hinblick auf potenzielle Veränderungen und Schocks wohl am widerstandsfähigsten erweisen dürften. Im Gegensatz dazu sind in Gruppe 1 jene Staaten mit den niedrigsten Punktzahlen vertreten. Diese Länder gelten als die am wenigsten reifen Nationen, die für eine Reihe von Risiken anfällig sind. Die Mitglieder jeder Gruppe ergeben sich, indem für jedes Land in neun unterschiedlichen Kategorien numerische Werte ermittelt werden. Dabei erhält ein Staat mit einem hohen Pro-Kopf-BIP in der entsprechenden Kategorie für diese Kennzahl auch mehr Punkte. Bei den acht übrigen Kategorien handelt es sich um die Bevölkerungsgröße sowie die Wettbewerbsfähigkeit, die Bonitätsqualität, die Durchdringung der Aktienmärkte und das Bewertungsniveau der entsprechenden Währung sowie das Gesundheitssystem, das Bildungsniveau und das politische Umfeld.

Um einen Überblick über die Veränderungen zu erhalten, die in einem für die Globalisierung so wichtigen Jahrzehnt stattgefunden haben (nämlich in den fünf Jahren vor der Finanzkrise des Jahres 2008 sowie in den fünf darauf folgenden Jahren), haben wir die Ergebnisse von Ende 2003 mit denen von Ende 2013 verglichen. Zunächst einmal war es faszinierend zu sehen, dass sich die numerischen Punktzahlen von fünf Volkswirtschaften aufgrund sehr hoher Punkte in mindestens einer der Kategorien nicht besonders gut in eine der 10 Gruppen einordnen ließen.

Zu diesen Staaten zählten:
*die USA – wegen ihrer großen und wohlhabenden Bevölkerung
*China und Indien – aufgrund ihrer enormen Bevölkerungszahl
*Hongkong – aufgrund eines hohen Wohlstands, eines weit entwickelten Finanzsystems und einer lediglich geringen Bevölkerungszahl
*Katar – ein wahrer „Ausreißer“ wegen seiner zahlenmäßig zwar geringen, aber sehr wohlhabenden Bevölkerung

Darüber hinaus sind die meisten Schwellenländer im Laufe des letzten Jahrzehnts in der Rangfolge nach oben geklettert, während einige Industrienationen abgerutscht sind. Mit am meisten zugelegt hat Ghana, das einen Sprung aus Gruppe 1 in Gruppe 5 gemacht hat. Demgegenüber zählen Island, Irland, Italien und Spanien zu den großen Verlierern, denn alle diese Länder sind aus Gruppe 10 in Gruppe 8 abgestiegen. Für große Überraschung sorgten zwei Staaten des Nahen Ostens, denn Kuwait und die Vereinigten Arabischen Emirate fielen aus Gruppe 8 in Gruppe 4.

Erwähnenswert ist auch der drastische Aufstieg Chinas. Mit AA- (Standard & Poor’s) entspricht dessen Bonitätsqualität nunmehr jener der meisten etablierten Volkswirtschaften oder liegt sogar darüber. Außerdem verfügt dieses Land über den zweitgrößten Aktienmarkt der Welt, während die chinesische Wirtschaft in ihrer Größe ebenfalls auf Platz zwei hinter der US-Wirtschaft rangiert. Diese Kriterien – und die Tatsache, dass die Wirtschaft dieses Landes fast genauso groß ist wie die aller anderen Schwellenländer zusammen – sprechen dafür, China nicht länger als Schwellenland einzustufen, sondern eine eigene Kategorie dafür zu schaffen. Denn das einzige Land, das auch nur eine vage Ähnlichkeit zu China aufweist, sind die USA.

Kategorien zum Jahresende 2013:
(Gruppe 1: Schwellenländer – Gruppe 10: Industriestaaten)

Gruppe / Länder
1 / Bangladesch, Nigeria, Pakistan
2 / Honduras, Kenia, Ruanda, Sambia, Uganda
3 / Ägypten, Jordanien, Libanon, Marokko, Sri Lanka, Venezuela, Vietnam
4 / Aserbaidschan, Kasachstan, Kuwait, Oman, Vereinigte Arabische Emirate
5 / Argentinien, Bolivien, Dominikanische Republik, Ecuador, El Salvador, Ghana, Guatemala, Jamaika, Namibia, Paraguay, Serbien, Ukraine
6 / Brasilien, Indonesien, Kolumbien, Malaysia, Mexiko, Philippinen, Russland, Südafrika, Thailand, Türkei
7 / Bulgarien, Costa Rica, Griechenland, Kroatien, Lettland, Mauritius, Panama, Peru, Rumänien, Trinidad und Tobago, Ungarn, Uruguay, Zypern
8 / Estland, Irland, Island, Italien, Litauen, Malta, Polen, Portugal, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechische Republik
9 / Chile, Südkorea, Singapur, Taiwan
10 / Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Israel, Japan, Kanada, Luxemburg, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Österreich, Schweden, Schweiz

(Quelle: Research von Loomis, Sayles & Company. Mindestabweichungsmethode nach Ward, 1963. 10 = eher wohlhabende Staaten per 2013; 1 = die ärmsten Staaten per 2013)

Insgesamt scheinen sich die Länder der Welt einander allmählich anzunähern. Dabei tendieren sowohl etablierten Industriestaaten der westlichen Welt als auch die sogenannten „Schwellenländer“ in Richtung Mittelfeld.

Eine Erkenntnis dieser Studie ist, dass es durchaus aufschlussreich sein kann, die Entwicklung einzelner Länder als einen kontinuierlichen Prozess zu betrachten, in dessen Verlauf sich nicht jedes Stadium des sozioökonomischen Fortschritts zwangsläufig von denen in anderen Staaten unterscheidet, obwohl es recht ausgeprägte Extreme geben kann. Da viele ehemalige Schwellenländer in sozioökonomischer Hinsicht inzwischen zu den Industriestaaten aufgeschlossen und sich diesen angenähert haben, lässt sich mittlerweile kaum noch sagen, wo die Gruppe der „Schwellenländer“ aufhört und die der „Industrienationen“ beginnt. Zweifellos bedarf es also mehr als nur der beiden Kategorien „Industriestaat“ oder „Schwellenland“, um Länder einzuordnen.

Die sogenannten Schwellenländermärkte sind heutzutage insgesamt also wesentlich reifer als noch vor einem Jahrzehnt. Auf Basis der Kaufkraftparität repräsentieren diese Volkswirtschaften inzwischen über 50% der globalen Wirtschaftsleistung. Außerdem verfügen die meisten Länder über eine robuste Investmentstatus-Einstufung und rasant wachsende Finanzmärkte (Research von Loomis, Sayles & Company, Stand 17. August 2015). Damit sind die Märkte zu wichtig, um von Investoren ignoriert zu werden.


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*) Peter Marber ist Leiter Emerging Market Investments bei Loomis, Sales & Company