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„Viele Risikomessungen sind nicht adäquat“

Value-at-Risk, so Carsten Müller, Geschäftsführer der Monega Kapitalanlagegesellschaft mbH, sollte im modernen Risikomanagement keinesfalls das Maß der Dinge sein. Zu groß seien die Schwächen, so seine Meinung im Gespräch mit IPE Institutional Investment Chefredakteur Frank Schnattinger. Doch auch wie ein robustes Risikomanagement-System aussehen sollte, verriet Müller.

Carsten Müller

IPE Institutional Investment: Herr Müller, wie würden Sie Risiko definieren?
Müller: Man sagt, Risiko liegt immer im Auge des Betrachters. Ich würde nicht so weit gehen, dass Risiko ein rein subjektives Empfinden ist. Ich denke, dass Risiko all das ist, was der individuellen Ziel- erreichung im Wege steht. Risiko ist daher individuell aber nicht unbedingt subjektiv. Risiken sind immer im Verhältnis zu den jeweiligen Zielen zu betrachten. Letztere können Kapitalerhalt, Inflationssicherung oder eine Benchmark sein.

IPE Institutional Investment: Angesichts der vielen Definitionen im Markt, scheint auch das große Problem vorzuliegen, dass Risiko selten adäquat gemessen wird. Stimmen Sie dem zu?
Müller: Es ist zu vermuten, dass viele Risikomessungen nicht adäquat sind. Das Problem ist aber, dass man einer Zahl nicht ansieht, ob sie gut oder schlecht ermittelt wurde. Um Risiken adäquat zu messen, müssen mehrere Faktoren zusammen spielen: die geeignete Methodik, die getroffenen Annahmen und die Berücksichtigung von Strukturbrüchen. Nehmen Sie an, Sie wollen als Versicherer die Risiken Ihrer Anlagen beurteilen. Eine isolierte Betrachtung macht hier keinen Sinn, da die Anlagen in enger Beziehung zu den Verpflichtungen auf der Passivseite getätigt wurden. Wenn man also z.B. nur die Volatilität heranzieht, springt man deutlich zu kurz. Aber es reicht auch nicht aus, irgendein Shortfall-Risikomaß zu wählen. Wenn die Annahmen, die ich hierbei treffe, nicht praxisgerecht sind, ist es das Ergebnis auch nicht. Wer heute noch mit der Normalverteilungsannahme arbeitet, sollte noch einmal einen Blick auf die Ausreißer der vergangenen 10 Jahre werfen.

IPE Institutional Investment: Ein Plädoyer für eine stärkere Gewichtung der Vergangenenheit?
Müller: Häufig werden historische Renditen herangezogen. Das ist grundsätzlich nicht falsch, da man damit auch Ausreißer in der Vergangenheit berücksichtigt. Ein Blick auf die historischen Renditen einer Bundesanleihe zeigt jedoch das Dilemma dieser Rückwärtsbetrachtung. Historisch gab es bei Bundesanleihen nahezu keine Ausreißer und kein Default. Außerdem waren die Zinsniveaus viel höher als heute. Aber ist eine Bundesanleihe heute so risikolos wie damals? Vermutlich nicht. Macht es Sinn, auf Basis eines völlig anderen Renditeniveaus Risiken abzuleiten und das noch vor dem Hintergrund, dass diese Renditeniveaus für die Zielerfüllung nicht mehr auskömmlich sind? Auch das ist fraglich.

IPE Institutional Investment: Value-at-Risk ist ein durchaus beliebter Ansatz, dem Sie nicht ganz unkritisch gegenüber stehen…
Müller: Value-at-Risk vereint viele Probleme. Erstens: Es handelt sich um ein absolutes Risikomaß ohne Bezug auf das eigentliche Ziel. Zweitens: Als Annahme wird die Normalverteilung unterstellt. Extremrisiken werden so möglicherweise deutlich unterschätzt. Man kennt zwar die Wahrscheinlichkeit eines Verlustes, aber nicht deren Höhe. Drittens: Es handelt sich nicht um ein intuitiv leicht verständliches Maß. Und die alleinige Orientierung an Extremwerten ist nicht ideal für die Steuerung der Anlagen.

IPE Institutional Investment: Welche Rolle spielt die Regulierung in diesem Zusammenhang? Man hat manchmal den Eindruck, dass hier Risiko nicht beschränkt, sondern im Gegenteil noch potenziert wird.
Müller: Aufsichtsrechtliche Value-at-Risk-Steuerungen können zu Krisenverstärkern werden. Untersuchungen belegen dies. Man spricht in diesem Zusammenhang gerne von dem „schwarzen Loch“ der Regulierung. Ein schwarzes Loch ist in der Astronomie dadurch gekennzeichnet, dass es aufgrund der Schwerkraft kein Entrinnen mehr gibt, wenn man sich erst einmal im Einflussbereich eines solchen befindet. Übertragen auf das Verhalten von Teilnehmern eines regulierten Marktes bedeutet das: Wenn es bei einigen Marktteilnehmern aufgrund von Kurseinbrüchen zu Überschreitungen aufsichtsrechtlicher Limits kommt, müssen diese entsprechende Assets veräußern. Diese Notverkäufe tragen zu einem weiteren Kursverfall bei, und die Wahrscheinlichkeit steigt, dass weitere Marktteilnehmer Limitverletzungen erleiden. Diese ziehen in der Folge weitere Veräußerungen nach sich usw.

IPE Institutional Investment: Wie sollte ein robustes System in groben Zügen aussehen?
Müller: Risiken sind immer Abweichungen vom Ziel. Wer also über Risiken nachdenkt, muss sich erstens über seine Ziele klar werden. Das bedeutet z.B., die entsprechende Mindestrendite unter Einbeziehung von Kosten etc. zu ermitteln. Eine Bank oder Versicherung muss ja nicht nur das verdienen, was sie den Kunden auf der Passivseite versprochen hat, sondern auch die Personalkosten, Sachkosten, Abschreibungen und eine Eigenkapitalverzinsung. Zweitens muss man vernünftige Annahmen über die Entwicklung der verschiedenen Anlagen im Hinblick auf ihre Wertentwicklung, Volatilität und Korrelation treffen. Und das nicht statisch, sondern in Abhängigkeit der verschiedenen Marktphasen. Beispielsweise unterscheiden sich Korrelationen in Zinssteigerungsphasen von denen in Zinssenkungsphasen. Drittens sollte man, wenn möglich, Strukturbrüche abbilden. Wenn bereits heute klar ist, dass Bundesanleihen sich nicht mehr so verhalten wie in der Vergangenheit, sollte man dies entsprechend abbilden. Das ist etwas für den gesunden Menschenverstand, da hilft kein Mathematikbuch. Viertens sollten die gewählten Risikomaße verständlich sein, um in der Praxis richtig interpretiert und akzeptiert werden zu können.

IPE Institutional Investment: Sie sagen, ein Risikomaß reicht nicht aus, über welche Dimensionen müssen wir sprechen?
Müller: Die verwendeten Risikomaße müssen das angestrebte Ertragsziel berücksichtigen. Bei Shortfallmaßen ist das möglich. Ich empfehle hier die Shortfallwahrscheinlichkeit, da sie einerseits sehr intuitiv ist und andererseits nicht eine Extremsituation, sondern den durchschnittlichen Normalfall beschreibt. Dies ist für die nachhaltige Profitabilität entscheidend. Die Extremsituationen, also die Ausreißer nach unten, sollte man aber dennoch nicht aus dem Blick verlieren und auch hier ein entsprechendes Risikomaß verwenden. Ausreißer entscheiden darüber, ob ein Unternehmen auch in Extremsituationen überleben kann. Und natürlich sind die aufsichtsrechtlichen Risikomaße ein begrenzender Faktor. Last but not least lohnt ein Blick auf die Verteilungsfunktion der Renditen der Anlage. In ihr stecken noch weitere Informationen, beispielsweise zur Schiefe, Steilheit u.v.m. Eine solche mehrdimensionale Betrachtung des Risikos schafft einen besseren Überblick, hat aber den Nachteil, dass eine klassische Optimierung nicht mehr möglich ist, da gleich mehrere, zum Teil konkurrierende Ziele im Blick zu halten sind. Um die vorhandenen Trade-Off-Beziehungen darzustellen und die dazugehörigen Abwägungen durchführen zu können, verwenden wir das computergestützte Programm „Monega Sextant“.

IPE Institutional Investment: „Schwarze Schwäne“ sind inzwischen unter Anlegern bekannte Tiere. Was bringt es in Prozentpunkten, diese Extremsituationen vermeiden zu können?
Müller: Die vermiedenen Verluste von heute sind die Gewinne von morgen. Nichts steigert die Profitabilität nachhaltiger, als Ausreißer nach unten zu vermeiden oder abzumildern. Dazu ein idealtypisches Beispiel anhand des DAX: Seit 1999 sind rund 5000 Tage vergangen. Hätte man die 10 schlechtesten Tage davon vermieden, so wäre anstatt einer Rendite von 2,5% p.a. rund 7,8% p.a. erzielt worden. Das ist ein enormer Unterschied.

IPE Institutional Investment: Wo sehen Sie die institutionelle Anlegerschaft mittlerweile in Sachen Risikomanagement aufgestellt?
Müller: Ich kann nicht für alle Anlegergruppen sprechen. Aber aufgrund der bekannten Schwierigkeiten aufsichtsrechtlicher Risikomaße sind institutionelle Anleger im Allgemeinen sehr offen für neue Methoden. Das Hauptproblem ist, dass Banken und Versicherungen kein alternatives Risikocontrolling aufbauen dürfen. Und solange strikte Vorgaben Innovationen auf der Risikoseite behindern, kann man nur graduell etwas verbessern. Jedoch kann man auch neue Ansätze im eigenen Risikocontrolling abbilden, d.h. man wählt im Rahmen des rechtlich zulässigen Rahmens die betriebswirtschaftlich und risikotechnisch beste Allokation aus. Das ist vielleicht nicht die allerbeste Lösung, aber eben eine, die aufsichtskonform ist.

IPE Institutional Investment: Was würden Sie sich in diesem Zusammenhang bei der Herangehensweise an das Thema Risiko in der Branche wünschen?
Müller: Vielfalt ist wichtig für ein stabiles System. Wenn alle die gleichen Systeme mit den gleichen Parametern nutzen, wird man Katastrophen auch künftig nicht verhindern können. Insofern würde ich mir eine größere Offenheit für neue Ideen zur Messung und zum Management von Risiken wünschen. Wir sehen aber, dass die Marktteilnehmer hier zunehmend aufgeschlossen sind.

IPE Institutional Investment: Vielen Dank für diese Ausführungen.