Besonders beachtenswert an der Episode vom 5. August ist, dass die Investoren ihren Fokus von einem Tag auf den anderen gewechselt haben. Noch bis zur Jahresmitte standen vor allem das Thema Geldpolitik im Mittelpunkt und die seit Monaten erhoffte Zinssenkung der US-Notenbank. Schwache Wirtschaftsdaten wurden deshalb sogar begrüßt, weil sie einen Zinsschritt wahrscheinlicher werden ließen. Doch nun hat sich die Perspektive auf die Beurteilung der zukünftigen Wirtschaftsentwicklung verschoben, die plötzlich wieder sorgenvoller betrachtet wird.
Tatsächlich war schon seit Längerem mit einer Abkühlung der amerikanischen Wirtschaft zu rechnen. Viele Expertinnen und Experten hatten erwartet, dass der Konsum bereits im ersten Quartal 2024 schwächeln könnte. Bis in den Juli hinein zeigte sich der US-Arbeitsmarkt allerdings sehr robust und lieferte der arbeitenden Bevölkerung sogar ein Lohnwachstum von mehr als 4%. Und aus fundamentaler Sicht hat sich in den wenigen Tagen, seit die Marktkorrektur einsetzte, nicht viel verändert. Ein Grund für die neue Nervosität dürfte vielmehr die Einseitigkeit sein, die sich in den ersten sechs Monaten dieses Jahres an den Börsen herausgebildet und verfestigt hatte. Zum einen betraf dies die Bewertung und demzufolge hohe Gewichtung einiger weniger Unternehmen im S&P 500, zum anderen die Erwartung, dass Donald Trumps Wiederwahl quasi gesichert sei. Gleichzeitig gingen die Märkte von einer sanften Landung der amerikanischen Wirtschaft aus. Das Ergebnis: Sehr viele Anleger hatten ihre Portfolios sehr einseitig positioniert.
Rotation hin zur zweiten Reihe
Dieses Ungleichgewicht muss nun aufgelöst werden. Bereits seit Anfang Juli war eine Rotation weg von den – je nach Statistik – sieben bis zehn Big-Tech-Aktien zu beobachten. Offenbar sind die Anleger nicht mehr gewillt, die Bewertungslücke zwischen den Big-Tech-Aktien und den restlichen 490 Titeln im S&P 500 noch größer werden zu lassen. Aus unserer Sicht ist dies eine gesunde Entwicklung. Denn dadurch erhält auch die zweite Reihe der US-Aktien, die offensichtlich unterbewertet sind, wieder mehr Aufmerksamkeit. Das neu erwachte Interesse an amerikanischen Nebenwerten lässt sich nicht zuletzt an der jüngsten Entwicklung des Russell 2000 ablesen.
Der Trend weg von Big-Tech dürfte weiter anhalten Wir gehen deshalb davon aus, dass das Börsentief Anfang August keine einmalige Episode war. Schließlich ist die Hausse zu lange gelaufen, als dass eine Marktkorrektur innerhalb nur eines Tages oder auch weniger Tage abgeschlossen sein könnte. Wir sollten uns also darauf einstellen, dass es noch vor den nächsten Notenbanksitzungen Mitte September zu einem weiteren Rutsch kommen kann – sogar unter die bisherigen Tiefstkurse.
KI ist keine Blase
Aufgrund der nun schrumpfenden Bewertungslücke halten wir den gleichgewichteten S&P 500 derzeit für attraktiver als den normalgewichteten Index. Hier kommt die Künstliche Intelligenz (KI) ins Spiel. Niemand kann wissen, ob sich die bislang hoch bewerteten First Movers dieser Technologie auch in Zukunft am Markt behaupten und ob sie vor allem ihre Preisvorstellungen durchsetzen können. Möglicherweise werden es ganz andere Firmen sein, deren Produkte für die Breite der Wirtschaft wirklich wichtig werden und deren KI-Erfolg sich langfristig im Aktienkurs niederschlägt.
KI insgesamt ist allerdings keine Blase, wie derzeit vereinzelt behauptet wird. Ähnlich der technologischen Entwicklung im Mobilfunk oder im E-Commerce Anfang der 2000er wird sie die Wirtschaft massiv verändern. Aber es werden deutlich mehr Unternehmen daran Anteil haben als aktuell erkannt wird. Klar ist derzeit nur: Alle Unternehmen müssen die Entwicklung mitgehen und investieren, um überhaupt weiter am Wettbewerb teilhaben zu können. Eine Zeitspanne über zehn bis 15 Jahre bis zur breiten Durchsetzung einer neuen Technologie ist dabei durchaus realistisch. Durch KI könnte das Wirtschaftswachstum aufgrund der erwarteten Effizienzsteigerung laut verschiedener Schätzungen um zusätzlich 5-15% angekurbelt werden – das tatsächliche Ergebnis dürfte wohl in einem Bereich zwischen diesen Werten liegen.
Weniger Wachstumsdynamik, aber keine Rezession
Zurück zur allgemeinen US-Konjunktur: In der jüngsten Berichtssaison waren die Unternehmensgewinne noch intakt; das Wachstum lag mit 9% sogar über den Erwartungen von lediglich 5%. Probleme bereitet jedoch die Umsatzseite, die mit einigen Enttäuschungen auf eine schwächelnde Konjunktur hinweist. Unter den Erwartungen lagen zum Beispiel die Umsätze bei Luxusgütern und Vergnügungsparks, aber auch bei Markenprodukten. Amerikanische Verbraucher schnallen inzwischen den Gürtel etwas enger und verzichten auf Anschaffungen, die nicht notwendig sind. Schon im ersten Halbjahr waren die Kreditkartenschulden und Ausfallraten von Privatkrediten gestiegen. Dazu kommen nun Schwächesignale vom Arbeitsmarkt. Wir gehen davon aus, dass sich dies über die nächsten beiden Quartale auch in den Unternehmensgewinnen niederschlagen wird.
Die Dynamik der US-Wirtschaft lässt also nach – doch bisher gibt es keine Anzeichen für eine Rezession. Insgesamt erwarten unsere Analysten dieses Jahr eine Wachstumsrate von 2,3% in den USA und 1,7% im nächsten Jahr. Damit liegen die USA trotz Abkühlung immer noch deutlich vor Europa, wo wir von einem Wachstum von lediglich 0,2% ausgehen.
Die Weichen für eine Zinssenkung der Fed im September scheinen also gestellt. Wir rechnen weiterhin mit drei Zinsschritten in diesem Jahr, 2025 mit vier. Anders als manche Marktteilnehmer sind wir allerdings nicht der Meinung, dass eine vorgezogene Notsitzung der US-Notenbank aufgrund des August-Crashs angezeigt oder überhaupt sinnvoll wäre. Zum einen weisen die bisherigen Wirtschaftsdaten, wie oben beschrieben, nicht auf eine fundamentale Krise hin, und zum anderen würde die Zentralbank damit nur weitere Unruhe in den Markt senden. Eine überstürzte Senkung der US-Zinsen würde nämlich als Signal gewertet, dass die Wirtschaft deutlich tiefer in der Abkühlungsphase steckt als bisher angenommen und die Rezessionsstimmung sogar noch verstärken.
Eine reguläre Senkung der Zinsen dürfte hingegen den meisten Firmen einen soliden Schub verleihen und die aktuelle Rotation weg von der Konzentration auf Big Tech unterstützen. Typischerweise profitieren gerade kleine und mittlere Firmen stärker von günstigeren Finanzierungsbedingungen und sinkenden Kosten als die großen Player. Und damit können auch die Unternehmensgewinne in der Breite aufholen – eine gesunde Entwicklung für den ganzen Markt.
Quellenhinweis: alle im Text verwendeten Daten stammen aus dem Amundi Outlook 2. Halbjahr
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*) Thomas Kruse, CIO, Amundi Deutschland