Ich muss mit zwei Geständnissen beginnen: Eine Besprechung für dieses Buch zu verfassen habe ich als eine meiner bislang schwersten Aufgaben empfunden. Ich meine damit nicht Lebensaufgaben, sondern als Rezensent. Dennoch habe ich die mir bekannten drei „Zusammenfassungen“ (oder „Exegesen“ – z.B. die von Ulrich Horstmann auf Deutsch) nicht gelesen: ich wollte mich weder in meinem eigenen Urteil beeinflussen lassen noch einer „Vermarktung im Quadrat“ aufsitzen, die das Buch schon erlebt. Das führt dann wie bei Karl Marx dazu, dass niemand mehr das Original liest. Andererseits muss ich zugeben, dass man das Buch hätte besser „lektorieren“ sollen.
Alles, was Sie – sofern Sie es noch nicht selbst angefangen oder gelesen haben – über Piketty's knapp 700-Seiten „kapitales“ Buch wissen müssen ist, dass es vielseitig ist (also in doppeltem Wortsinn!), kontroverse Thesen enthält und dennoch sehr gut geschrieben ist – zumindest kann ich das für die englische Version sagen, die ich gelesen habe. Zum Vergleich: Marx' Kapital ist mehr als dreimal so dick und gefühlt mehr als dreimal so unlesbar, selbst auf Deutsch. Gewisse Längen hat Piketty aber, z.B. wenn er die Entwicklung der Capital Income Ratio über mehrere Jahrhunderte und in diversen Volkswirtschaften analysiert – das liegt einerseits in der Empirie der Sache, andererseits ist das eine Schwäche des Lektorats: Man hätte das alles besser gliedern und besser verdaulich machen können. So geht es durch weite Teile des Buches mit vielen Fragestellungen (Wohlstands- und Einkommensverteilung, Spar- und Investitionsverhalten, Auswirkungen von Kriegen, Imperialismus, und Demographie – und so weiter und so weiter), jede für sich interessant und wichtig – der ungeduldige Leser wird da aber leicht den roten Faden verlieren. Andererseits ist gerade diese empirische Detailtiefe eines der „Assets“ des Buches.
Der Titel ist für ein 2014 publiziertes Buch anspruchsvoll, aber das gibt Piketty selbst zu (ob man 1914 ein Buch über Kapital im 20. Jahrhundert hätte schreiben können?). Er benötigt die eifrige Vorarbeit, um seine zentrale Problematik zu belegen – und seine Remedur. Die zentrale These ist – nett in eine einfache Formel r > g zu packen – dass eine Kapitalrendite (r), die größer ist als die Wachstumsrate der Volkswirtschaft (g) zu langfristig „zersetzenden“ Problemen der Wirtschaft führt.
Das erinnert zwar wieder ein wenig an die vielzitierte Marx'sche Dystopie vom Ende des Kapitalismus, ist aber grundsätzlich ganz anders zu bewerten. Piketty warnt – meines Erachtens zu Recht – vor den Gefahren von nur akkumulierter und vererbter Kapitalproduktivität und prognostiziert als Ergebnis seiner vielen langfristigen Längs- und Querschnittanalysen eine Phase sehr langsamen Wachstums. Das ahnen oder befürchten wir ja sowieso schon; was mir dabei aber deutlich zu kurz kam war Piketty's Warnung, dass wir nicht zu sehr auf Technologie- oder Innovationsschübe setzen dürfen, die für ihn keine Garantien für nachhaltig höhere Wachstumsraten sind.
Meines Erachtens ist das einer der Dreh- und Angelpunkte des Werkes: Eine rationale, faire und gerechte Gesellschaftsordnung kann nicht auf der Hoffnung aufgebaut werden, dass die Schaffung von Rahmenbedingungen genügt, um Technologie- oder Innovationsschübe zu initiieren, die das dann – die gerechte Ordnung und Verteilung – quasi von selbst „besorgen“. Das zielt genau in das Fundament aller libertären Überzeugungen.
Neben den vielen empirischen Analysen sind die politischen Konsequenzen wohl genau das, was das Buch auch kontrovers macht. Dazu gehört vor allem die von Piketty vorgeschlagene Remedur für die aus r > g folgenden Probleme: eine globale und progressive Vermögenssteuer. In meiner persönlichen Bewertung sind die ökonomischen Analysen schon in ihrem Umfang beeindruckend, die politischen Konsequenzen, die Piketty daraus zieht, nicht ganz so. Auch die Ausführungen zu ganz aktuellen Themen (Finanzkrise, Staatsschulden, Höhe von Vorstandsbezügen u.v.m.) sind weder so fundiert, noch bieten sie wirklich Neues. Überzeugend und beeindruckend bleiben Piketty's langfristige Perspektive und die Tatsache, dass er seine politische Argumentation aus einem empirischen und datenbasiertem Fundament heraus entwickelt.
Was will man mehr mit einem Geschenk erreichen, als eine herrlich kontroverse politische Diskussion am Weihnachtsbaum?
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Das Buch: “Capital in the Twenty-First Century", The Belknap Press of Harvard University Press, Cambridge 2014, 685 Seiten
Der Autor: Thomas Piketty
Der Rezensent: Dr. Oliver Roll ist unabhängiger Consultant und Gründer von 4AlphaDrivers