Auf die manchmal gestellte Frage, warum alle meine Rezensionen sehr kritisch seien, aber am Ende dann doch in eine Leseempfehlung münden, kann ich nur sagen: wenn ich das Buch nicht für „lesenswert“ halte, kann ich es selbst nicht beenden – und keine Rezension schreiben. Immerhin habe ich bei aller knappen Zeit den Anspruch, es wenigstens gelesen zu haben. Aber: eine Rezension muss von Natur aus kritisch sein und aufzeigen, was man vermisst hat oder kritisch sieht. Werbung findet der Interessierte ausreichend auf den Plattformen, oder weniger „virtuell“, auf dem Klappentext:
“The world is being shaken by the collision of energy, climate change, and the clashing powers of nations in a time of global crisis. Out of this tumult is emerging a new map of energy and geopolitics.”
Damit ist klar, was von Daniel Yergins neuem Buch „The New Map“ zu erwarten sein sollte: Lesenswert, aber... wie sieht die neue Energie- und geopolitische Landkarte aus?
Lesenswert ist das Buch also allemal, denn diese Frage ist schon sehr zentral. Man kann die 440 Seiten auch wirklich zügig lesen: flüssig geschrieben, wird die geopolitische Karte in großen Bögen skizziert, manchmal mit groben Pinselstrichen, manchmal mit detaillierten Stories zu einzelnen Personen oder Ereignissen unterhaltsam angereichert.
Das Buch reiht sich ein in eine etwas in Mode kommende Darstellung von Geschichte anhand des Themas „Energie“ – gerade das macht es relevant und interessant: Angesichts der Bestrebungen, die fossilen Energieträger durch erneuerbare zu ersetzen, muss man ja fragen, was das ökonomisch und geopolitisch bedeutet, und welchen Einfluss es auf die Volkswirtschaften hat (vielleicht auch: ob bzw. wie schnell das überhaupt geht?).
Yergin fokussiert allerdings nicht darauf, wie die Verfügbarkeit von Energieressourcen die gesellschaftliche und/oder wirtschaftliche Entwicklung der jeweiligen Länder oder Regionen beeinflusst hat, sondern eher, welche geopolitischen Wechselwirkungen dies hatte – und in der näheren Zukunft haben wird.
Yergin gliedert das in folgende Kapitel:
America's New Map
Russia's Map
China's Map
Maps of the Middle East
Roadmap
Climate Map
Nun ja: Europa (Norwegen und Nordsee-Öl!) fehlt da komplett. Das Kapitel über Amerika – insbesondere über die 'shale revolution' und die Wandlung Amerikas vom großen Importeur zum globalen Exporteur – bot mir die meisten neuen Informationen, da scheint der Autor auch nahe dran; vielleicht das beste Kapitel? Das längste Kapitel – über Middle East – skizziert die bekannte „Öl-Geschichte“, ist aber in der Entwicklung der großen Linien wunderbar geschrieben. Am „dünnsten“ ist das China-Kapitel – das scheint aber leicht erklärbar: da gibt es am wenigsten Informationen, Transparenz, usw. Gerade deswegen wünscht man sich natürlich vom Experten-Autor und Chairman von IHS Markit („one of the leading information and research firms in the world“, gemäß Klappentext) zu so einer Region ein bisschen mehr.
Also Geopolitik; die beiden Schlusskapitel „Roadmap“ und „Climate Map“ bieten Streifzüge durchs Silicon Valley (von Uber zu selbstfahrenden Google- und Elektro-Autos, Düsentriebwerken, Containerization u.v.m.), und ein wenig über erneuerbare Energien und all das. Auch wenn COP20, COP21 und der Green New Deal ihren Abschnitt haben und Carbon Capture andiskutiert wird: ein Buch über die „Energiewende“ war es für mich nicht wirklich. Ich hatte mir vor der Lektüre mehr Antworten auf die Fragen erwartet, die uns im Asset Management beschäftigen und z.B. von ihm selbst gegen Ende gestellt werden (Seite 418): „What, then, is the future of the $5 trillion global oil and gas industry that supplies almost 60% of world energy?“ Exploration, Refinanzierungen, Preiseffekte am Welt-Ölmarkt; das Kapitel endet leider schon auf Seite 422.
Also eben eher Geopolitik. Und vielleicht müssen wir alle eher selbst Szenarien entwickeln und uns überlegen, ob und wie die Energiewende die Weltkarte neu zeichnet – und ob wir das so wollen und darauf vorbereitet sind. Der große Unterschied zu allen bisherigen „Evolutionen“ in der Energienutzung, von der Muskel- zur Dampfkraft, zur Elektrifizierung und der Entwicklung der Verbrennungsmotoren ist deutlich: Technologische Entwicklung, d.h. die Verfügbarkeit neuer Techniken, Antriebe, etc. ging dem geänderten Einsatz und Nutzungsverhalten voraus und zog die Beschaffung und Förderung der Energieträger nach sich. Mit der Energiewende ist es andersherum: Bestimmte Energieträger sollen nicht mehr eingesetzt werden; wir sind auf der Suche nach Alternativen und Ersatz. Diejenigen, die im Besitz der (fossilen) Energieträger sind, wollen diese noch zeitnah vermarkten.
Lesenswert.
Das Buch: “The New Map: Energy, Climate, and the Clash of Nations”
Penguin Press, New York, 2020. XX + 492 S.
Der Autor: Daniel Yergin
Der Rezensent: Dr. Oliver Roll ist Strategie- und Vertriebsberater (4AlphaDrivers) und Niederlassungsleiter Deutschland der norwegischen Pareto Asset Management.