Während die Corona-Pandemie zu kurzfristigen Panikverkäufen durch die Marktteilnehmer geführt hat, scheint die gegenwärtige Ukraine-Krise die Anleger länger zu verunsichern. Denn neben der politischen Instabilität belasten dazu die stark gestiegene Inflation, Lieferengpässe, hohe Rohstoffpreise und die von den Notenbanken eingeleitete Zinswende die Anlegerlaune. In diesem Zusammenhang hilft es, sich ins Bewusstsein zu rufen, dass Krisen immer wieder in abgewandelter Form auftreten, nur deren Ursachen sind oft unterschiedlich. Die Reaktion darauf unterliegt jedoch immer den gleichen menschlichen Verhaltensmustern. Der Wirtschaftswissenschaftszweig der Behavioral Finance versucht zu erkunden, inwieweit menschliche Emotionen und kognitive Verzerrungen Investitionsentscheidungen beeinflussen.
Behavioral Finance: die zweite Generation
Seitdem in den 1980er Jahren Wissenschaftler wie Daniel Kahneman und Amos Tversky oder Richard Thaler den Mythos des Homo oeconomicus entzaubert haben, hat sich die Verhaltensökonomie als eigenständiger Wissenschaftsbereich etabliert und weiterentwickelt.
Der US-amerikanische Wirtschaftsprofessor Meir Statman verwirft in seinem Werk „Behavioral Finance: The Second Generation“ die Dichotomie von Homo oeconomicus und irrationalem Anleger, die von den ersten Behavioral Finance-Ökonomen entworfen wurde. Er stellt die These auf, dass Menschen meist mehrere Bedürfnisse befriedigen wollen. Neben rationalen Nützlichkeitsmotiven spielen auch emotionale und kommunikative Ziele eine Rolle. Er veranschaulicht dies am Beispiel von Luxusuhren. Ein rein rational veranlagter Käufer würde nie eine Luxusuhr kaufen, da sie seine Finanzen übermäßig strapazieren würde und die Leistung – das Anzeigen der Uhrzeit – nicht besser ist als bei einer günstigeren Uhr. Der Käufer mag Zufriedenheit und Stolz nach dem Kauf einer Luxusuhr empfinden. Außerdem kann er der Welt kommunizieren, dass er oder sie ein stilvoller und vermögender Mensch ist. In der Welt der Investments ist nachhaltiges Investieren ein Beispiel für eine Aktion, bei der mehrere Ziele befriedigt werden sollen. Dabei können emotionale und kommunikative Motive sogar das Nützlichkeitsmotiv – das Gewinnen einer Rendite – übersteigen.
Ein Labyrinth an kognitiven Verzerrungen
Mittlerweile wurde eine Vielzahl von kognitiven Verzerrungen (Englisch: Biases) identifiziert. Sie spielen auch im aktiven Asset Management eine Rolle, da auch Investmentprofis nicht von diesen kognitiven Verzerrungen befreit sind.
Ein Beispiel ist der Home Bias. Dieser beschreibt die Tendenz von Anlegern, ihr Geld in Aktien aus dem Heimatland anzulegen, da die Unternehmen aus dem eigenen Land dem Anleger besser bekannt und damit vertraut sind. Dabei ist eine der Grundregeln des Investierens, das Portfolio über verschiedene Anlageklassen, Branchen und Länder zu diversifizieren, um das Anlagerisiko zu reduzieren. Auch eine neue Studie der Frankfurt School of Finance and Management hat offengelegt, dass allein institutionelle Investoren aus Deutschland durch den Home Bias-Mechanismus jährlich an die 15 Mrd. Euro an Performance einbüßen. Die Übergewichtung von deutschen und europäischen Aktien führt laut der Studie zu ineffizienten Portfolios, mit weniger Ertrag und erhöhtem Risiko.
In Zeiten eines höheren Bewusstseins für Diversität in der Gesellschaft findet auch der Einfluss von Geschlecht, Ethnie und Rasse auf Investmententscheidungen größere Beachtung in der Behavioral Finance. Eine Studie der Stanford University legt nahe, dass institutionelle Investoren Venture Capital (VC)-Firmen, die von People of Color geführt werden, schlechter bewerten als VC-Firmen „weißer Menschen“.
Quantitatives Investieren als Lösungsansatz
Um Emotionen, wie Panik und Gier, und kognitive Verzerrungen, wie Home Bias, aus dem Investmentprozess auszuschließen, können Anleger einer quantitativen Investmentstrategie folgen. Ein regelbasierter Handelsansatz ermöglicht das Investieren nach klaren mathematischen Regeln. Die Momentumstrategie basiert auf dem wissenschaftlich belegten Momentum-Effekt. Dieser besagt, dass diejenigen Aktien und Fonds mit den höchsten Kursgewinnen – also dem stärksten Momentum – eine statistisch höhere Wahrscheinlichkeit haben, ihren positiven Trend kurz- bis mittelfristig fortzusetzen. Mit Hilfe des Computers können so Millionen von Kursdaten ausgewertet werden. Ein technisches Handelssystem steigt automatisiert in diese Momentum-Gewinner ein und steigt wieder aus, wenn sich das Kurswachstum abschwächt. Dadurch ergibt sich ein rotierendes Portfolio, das eine hohe Diversifikation aufweist. Und das frei von Gier und Panik. Mitunter können auch Nischen-Branchen oder exotische Länder den Eingang ins Portfolio finden. Anleger sollten in diesem Fall ihre Vorurteile und Emotionen ablegen und auf die Überlegenheit des regelbasierten Investierens vertrauen.
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*) Leo Willert, Gründer und Head of Trading bei ARTS Asset Management