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Kommentar: Chaos im System - warum Marktprognosen selten eintreffen

Marktprognosen gehören zum Pflichtprogramm großer Fondsgesellschaften und Banken. Wirtschaftsmedien nehmen sie dankbar ins Programm, versprechen sie doch scheinbar Orientierung im komplexen Gefüge der Finanzmärkte. Besonders beliebt sind Jahresausblicke, erstens weil sie gut zum Ritual der Jahresrückblicke in den anderen Ressorts passen, zweitens weil sie gefahrlos sind. Sollten sich die Vorhersagen nämlich am Ende als falsch erweisen, erinnert sich niemand mehr daran.

Leo Willert

Fehlprognosen sind tatsächlich eher die Regel als die Ausnahme, denn auch die erfahrensten Experten sind keine Propheten und bedienen sich derselben Werkzeuge wie alle anderen. Das bedeutendste ist die Extrapolation – also das Fortschreiben bereits bestehender Entwicklungen in die Zukunft. Dabei werden etwa gerne politische Rahmenbedingungen herangezogen, die bereits zum Prognosezeitpunkt sichtbar sind. Anfang 2019 galten beispielsweise der Handelsstreit zwischen den USA und China sowie der Brexit als wahrscheinliche Kursbremsen im kommenden Börsenjahr. Im Rückblick freilich wissen wir, dass beide Themen zwar wichtig für Teile der Wirtschaft aber nicht entscheidend für die Aktienmärkte waren, denn die wichtigsten Leitindizes beendeten das Jahr mit überdurchschnittlichen Zuwächsen.

Im Ausblick auf 2020 waren es dann – noch einmal – Handelskonflikt und Brexit, diesmal flankiert von der Ungewissheit über den Ausgang der US-Wahlen. Diese Konstellation könnte, so war mehrfach zu lesen, die Aktienhausse stoppen, die vielen Analysten wegen ihrer außergewöhnlichen Dauer ohnehin längst suspekt geworden war. Das Coronavirus, das in China bereits wütete, hatte das Gros der Marktstrategen zum Jahresbeginn noch nicht im Fokus. Ende Februar, drei Wochen nachdem die WHO von einer „gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite" gesprochen hatte, begann der ebenso rasante wie kurze Aktiencrash, der selbst dann noch manchen Marktstrategen überraschte und etwa ein Viertel des Börsenwertes an den etablierten Aktienmärkten erodierte.

Ab dem 24. März setzte dann eine schnelle Erholung ein, die schon bald den Titel „meistgehasste Rally aller Zeiten“ bekam. Das sollte zum Ausdruck bringen, dass ein Großteil der institutionellen Investoren zuerst mit Skepsis, später mit wachsendem Ärger, von der Seitenlinie zusahen, während vorwiegend Privatanleger wie wild Aktien kauften und die Kurse hochjagten. Auch viele Analysten kommentierten die Börsen-Party mit Unverständnis. Kein Wunder, denn aus der makroökonomischen Perspektive der Profis war der Kursauftrieb eine wilde Übertreibung. Schließlich entwickelte sich die Pandemie in Europa und Amerika gerade erst zu einer massiven Bedrohung für die Gesundheitssysteme, mit noch unabsehbaren Folgen für die Wirtschaft.

Diese Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit zeigen, was in den Wirtschaftswissenschaften schon seit Jahrzehnten immer wieder untersucht und belegt wurde: Experten mögen recht fähig darin sein, die Entwicklung von Bilanzkennzahlen in absehbarer Zukunft einzuschätzen, wenn es jedoch um die Vorhersage von Börsenkursen geht, sind sie aber kaum besser als der Zufall.

Schwarze Schwäne und der Faktor Mensch
Das Problem ist nicht mangelnde Fachkenntnis der Experten, es liegt vielmehr in der Natur der Sache: Zusammenhänge zwischen der Entwicklung von Volkswirtschaften und Aktienmärkten existieren natürlich, sie zeigen sich aber eher langfristig. Für die Einschätzung der kurz- bis mittelfristigen Kursentwicklungen an den Börsen haben makroökonomische Beobachtungen dagegen nur sehr eng begrenzten Wert. Das liegt nicht zuletzt am Faktor Mensch, der das ohnehin schon sehr komplexe System der Finanzmärkte chaotisch und schlicht unberechenbar macht. Wir agieren eben nur selten auf der Basis von wohl bedachten Fakten oder berechneten Wahrscheinlichkeiten.

Menschen sind daher schon unter Alltagsbedingungen keine vollständig rationalen und informierten Agenten mit eingebauten Detektoren für die faire Bewertung von Wertpapieren, wie sie die klassische Finanzmarkt-Theorie annimmt. Konfrontiert mit Extremen versagen sie kläglich. Das hat auch Nassim Taleb in seinem Bestseller „Der Schwarze Schwan“ gezeigt. Menschen ignorieren demnach extrem unwahrscheinliche aber katastrophale Ereignisse so lange, bis sie schließlich doch eintreten. Solche „schwarzen Schwäne“ waren etwa der Erste Weltkrieg oder die Anschläge auf das World Trade Center im Jahr 2001. Im Nachhinein erzählen wir uns darüber plausible Geschichten, die das zuvor als unmöglich betrachtete Geschehen ex-post – freilich nur scheinbar – stringent und logisch erklären, gerade so, als hätten wir es ohnehin schon immer gewusst.

Die Mechanismen hinter solchen Tricks der menschlichen Wahrnehmung haben Psychologen und Pioniere der „Verhaltensökonomik“, darunter der Nobelpreisträger Daniel Kahneman, bereits seit den 1970er Jahren erforscht. So sind wir Menschen etwa ständig dabei, ganz unwillkürlich kausale Zusammenhänge zwischen faktisch voneinander unabhängigen Ereignissen zu erfinden oder für leidvolle Ereignisse Ursachen zu konstruieren, wenn keine offensichtlichen zur Verfügung stehen. Die Psychologie erklärt dieses – evolutionsbiologisch übrigens vorteilhafte – Verhalten damit, dass wir Menschen nach Struktur und Bedeutung verlangen und die Abwesenheit davon kaum ertragen können – insbesondere in Zusammenhang mit negativ erlebten Ereignissen.

Heute ist klar: Die menschliche Psychologie ist sehr gut darin, unser individuelles Überleben zu sichern, aber jämmerlich unzulänglich, wenn es darum geht, qualifizierte Entscheidungen innerhalb von Systemen zu treffen, die schwer zu durchschauen sind.

Könnte man Schwarze Schwäne oder auch weniger extrem unwahrscheinliche Faktoren, die die Märkte bewegen, also besser mittels mathematischer Verfahren statt menschlicher Expertise erfassen? Sicher nicht mit den konventionellen Methoden der Statistik. Eher, aber auch keineswegs präzise, mit fraktalen Rechenmodellen auf Basis der Erkenntnisse des Mathematikers und Begründers der Chaos-Theorie, Benoît Mandelbrot.

Für die Prognose der Corona-Pandemie, so meint Taleb, hätte es freilich keine höhere Mathematik gebraucht. Die wäre kein schwarzer, sondern ein weißer Schwan – ein Ereignis, das die Welt zwar erschüttert hat, aber ohne große Mühe vorhersehbar war. Das letzte Großereignis vor Corona mit weltweiten Folgen auf die Börsen, die Finanzkrise von 2008, reiht sich irgendwo dazwischen ein – ein grauer Schwan also? Warnungen vor einem Platzen der Immobilienblase in den USA und den Folgen gab es ja schon mindestens zwei Jahre zuvor. Aber, obwohl im Finanzsystem entstanden, wurde diese Krise von den wenigsten Finanzexperten antizipiert. Jene, die es doch taten, wie die Hedgefonds-Manager John Paulson oder Michael Burry, verdienten mit Wetten darauf Milliarden.

Die Komplexität der Märkte hat seither weiter zugenommen. Zentralbanken haben die Finanzmärkte durch Niedrigstzinsen und geldpolitische Lockerungsprogramme im Gefolge der Finanzkrise aufgebläht und die Aktienrally am Laufen gehalten. Das hat bestehende Risiken vielleicht verschleiert, wahrscheinlich noch schwieriger modellierbar gemacht, sicher aber nicht zum Verschwinden gebracht.

Prognosefrei durch alle Wetter
Eine Möglichkeit, mit diesen Risiken umzugehen und gleichzeitig dem Prognosedilemma zu entkommen, bietet die Momentum-Strategie. Diese beruht auf der statistischen Beobachtung, dass steigende Kurse mit höherer Wahrscheinlichkeit weiter steigen, als zu fallen und umgekehrt. Ein etablierter Trend setzt sich also wahrscheinlicher fort, als dass er sich umkehrt. Die Finanzmarkttheorie hat Probleme, dieses empirisch nachweisbare Phänomen mit ihren aktuellen Standardmodellen in Einklang zu bringen. Mit Hilfe von Mathematik und Computerunterstützung ist es aber möglich, vom Momentum-Effekt ganz praktisch und in beliebig großen Märkten zu profitieren. Dazu werden aus einem gegebenen Anlageuniversum auf Basis der Preisdaten laufend jene Chancen identifiziert, die das stärkste positive Momentum ausgeprägt haben. In diese wird investiert. Schwächt sich ein Trend bis zu einem definierten Grad ab, erfolgt der Ausstieg. Die Strategie kann sowohl zur Titelauswahl innerhalb eines Portfolios genutzt werden als auch zur Risikosteuerung des gesamten Portfolios. Dafür wird das Momentum des Gesamtmarktes herangezogen – dessen Veränderung bestimmt den Investitionsgrad, abhängig von Richtung und Stärke.

In einem solchen, regelbasierten Momentum-Ansatz gibt es keine subjektiven Fehleinschätzungen, psychologische Fallen oder emotionale Affekte. Es wird nicht versucht, Trends vorauszusehen, sondern auf Basis der eingesetzten, quantitativen Modelle bereits etablierte für den Einstieg zu nutzen. Moderne Momentum-Strategien folgen damit ganz automatisch einem der ältesten und immer gültigen Ratschläge für erfolgreiches Investieren: Begrenze deine Verluste diszipliniert, lass Gewinne laufen.

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*) Leo Willert ist Gründer und Head of Trading bei ARTS Asset Management.