IPE D.A.CH: Der Sechste IPCC-Sachstandsbericht umfasst Tausende von Seiten. Welche neuen Erkenntnisse gibt es?
Stathers: Ziel dieses Berichts ist die Synthese aller Erkenntnisse aus den wissenschaftlichen Studien, die seit der letzten Zusammenfassung im Jahr 2013 veröffentlicht wurden. Einer der dabei hervorgehobenen Faktoren ist das vergleichsweise moderate CO2-Budget – nur 500 Gigatonnen –, das noch zur Verfügung steht, um eine 50-prozentige Chance auf eine Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 °C über vorindustriellem Niveau zu erreichen. In einigen früheren Szenarien war man davon ausgegangen, dass das vorgesehene CO2-Budget eine 67-prozentige Chance auf das Erreichen des 1,5 Grad-Ziels bietet. Dies bedeutet, dass wir es im Vergleich zu unseren Annahmen der letzten fünf Jahre mit einem größeren Budget und einer geringeren Chance auf Erreichen des Temperaturziels zu tun haben. Warum lenkt man unsere Aufmerksamkeit in diese Richtung? Wir sind nun mit Sicherheit an dem Punkt, an dem wir uns mit Optionen beschäftigen sollten, die eine höhere und nicht eine geringere Erfolgswahrscheinlichkeit bieten. Vielleicht müssen wir uns inzwischen eingestehen, dass wir hoffen müssen. Die Lage ist kritisch, aber wir haben immer noch eine Chance, die Auswirkungen menschlichen Handelns auf das Klima abzumildern.
IPE D.A.CH: Grund zur Hoffnung bieten möglicherweise Technologien zur Entfernung von Kohlenstoffdioxid. Ist diese Hoffnung berechtigt?
Stathers: Ich bin da eher skeptisch, weil die Technologien als Mechanismen verwendet werden, um Emissionspfade und Temperaturprognosen aufeinander abzustimmen, obwohl es keine Garantie gibt, dass all diese Technologien funktionieren. Es ist besorgniserregend, dass der CO2-Abscheidung und -Speicherung in dem Bericht so viel Bedeutung beigemessen wird, wo es doch andere effektive Technologien gibt, die vorangetrieben werden können.
IPE D.A.CH: Gehen wir einmal davon aus, dass wir bereits einige Klimaschwellen überschritten haben: Sollten wir uns nicht viel mehr mit dem Thema Anpassung befassen?
Stathers: Dieses Thema wird völlig vernachlässigt. Damit ist eine große Herausforderung verbunden, da wir viel genauere Analysen brauchen. Anpassungsmaßnahmen in London fallen beispielsweise völlig anders aus als in Bangladesch. Und wer soll diese bezahlen? Einige der vorgeschlagenen Lösungen sind recht radikal, zum Beispiel die Anhebung ganzer Inseln, da der mit extremen Klimaereignissen verbundene Tidenhub größer geworden ist. Mit einigen dieser Bereiche haben wir uns bislang noch kaum beschäftigt. Mithilfe des Green Climate Fund sollen jährlich 100 Mrd. US-Dollar durch die Industrieländer aufgebracht werden, um Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel und zur Verringerung seiner Folgen in den Entwicklungsländern zu finanzieren. Bislang sind jedoch noch nicht alle Beiträge geflossen, trotz der vor Jahren in Paris eingegangenen Verpflichtungen. Das Finanzierungsvolumen liegt eher bei 12 Mrd. US-Dollar jährlich, was einem Bruchteil des eigentlich geplanten Budgets entspricht. Es gibt nun weitere Anstrengungen in diese Richtung, aber die britische Regierung hat sich selbst keinen Gefallen mit der Kürzung von Auslandshilfen getan.
IPE D.A.CH: Sie sagen, dass der Finanzsektor Zusammenhänge und die Art und Weise, wie Klimafolgen zu einer größeren Instabilität führen könnten, unterschätzt. Warum bemühen wir uns nicht stärker, dieses komplexe Thema zu verstehen?
Stathers: Menschen neigen zu einer optimistischen Sichtweise, und im Finanzsektor dreht sich alles um die Sicherung des Wirtschaftswachstums. Wir haben uns noch nicht ausreichend damit beschäftigt, an welchem Punkt die Wachstumsagenda endgültig ihr Ende finden könnte, und noch nicht genug Szenarien mit sehr geringem oder Nullwachstum durchgespielt. Vor Jahren leitete ich ein Projekt mit Chefökonomen von Investmentbanken, bei dem es um die Auswirkungen des Klimawandels und deren Einbeziehung in langfristige Prognosen ging. Die meisten waren sich einig, dass dies wahrscheinlich zu aufwändig wäre. Ein Teilnehmer war mutig genug, darauf hinzuweisen, dass die Situation zu Konflikten führen könnte. Wenn Sie sich die jüngere Geschichte anschauen, so war einer der Gründe für den Aufstand in Syrien eine langanhaltende Dürre. Diese zwang die ländliche Bevölkerung auf der Suche nach Arbeit zur Migration in die Städte. Dies wiederum trug zum Bürgerkrieg bei, im Zuge dessen Hunderttausende Syrer in andere Regionen, darunter auch Europa, geflüchtet sind. Auch in den USA sind die Folgen akuter Klimaereignisse in Guatemala und Honduras zu beobachten. Viele Menschen hatten allmählich nichts mehr zu essen und sorgten sich um ihre Zukunft. Ganze Menschenkarawanen wanderten in Teile der Welt aus, wo sie bessere Chancen für sich sahen. Dies war einer der Einflussfaktoren für die Wahl von Donald Trump in den USA. Vor Kurzem ist es aufgrund zunehmender Wasserknappheit zu Unruhen im Iran gekommen. All diese Faktoren werden sich mit ziemlicher Sicherheit nicht einfach auflösen. Menschen werden ihr Zuhause verlassen, um ihr Leben zu schützen. Daraus wiederum werden Konflikte entstehen, wenn wir nicht lernen, wie wir die zugrunde liegenden Probleme menschlich und verantwortlich angehen und lösen können. Diese Arten von Folgen sind in den ökonomischen Modellen nicht vollständig berücksichtigt, weshalb diese auf sehr vielen Ebenen einfach defizitär sind. Sie erfassen nicht die alternde Belegschaft, keine Hausarbeit und so vieles mehr. Wir müssen unsere Modelle grundlegend überarbeiten.
IPE D.A.CH: Ein Thema, das sowohl Verhalten als auch Technologie betrifft: Sollten wir die Meinungen und das Verhalten der Menschen nicht stärker in Modellen abbilden?
Stathers: Der Klimawandel ist nicht nur ein Verhaltensproblem, sondern auch das Resultat eines nicht funktionierenden freien Marktes. Staatliche Eingriffe haben ihre Berechtigung. Der Staat kann und muss einen erheblich größeren Einfluss nehmen, statt einfach nur so zu tun, als ginge es nur um die „Wahl des Verbrauchers“. Beispielsweise lassen sich Hebel rund um den CO2-Preis in Gang setzen. Wir stehen vor massiven Herausforderungen, weil wir die Ressourcen der Erde einfach viel zu stark ausbeuten. Ende Juli hatten wir den Punkt erreicht, an dem wir unser gesamtes Jahresbudget an Kohlenstoffdioxid, Lebensmitteln und Wasser aufgebraucht hatten – nach 212 Tagen, so schnell wie nie zuvor. Wie können wir unser Konsumverhalten verändern? Es geht nicht nur darum, die Grenzen des Planeten wieder zu respektieren; wir müssen ihm auch die Möglichkeit geben, sich zu erholen. Meiner Ansicht nach bedarf es stärkerer staatlicher Lenkung, was sich jedoch schwierig gestaltet, da wir uns an Freiheiten gewöhnt haben. Aber sollten wir die Freiheit haben, unseren Lebensraum zu zerstören? Letztlich müssen sieben Milliarden Menschen auf diesem Planeten lernen, auf eine Art und Weise zu leben und zu konsumieren, die keinen untragbaren Druck auf unsere Gesellschaften erzeugt.
Von unserem jetzigen Standpunkt aus gesehen gibt es viele verschiedene Szenarien, die wir ins Auge fassen können. Es hängt ganz von der eigenen Persönlichkeit ab, und letztlich davon, ob man an die Menschheit glaubt.
IPE D.A.CH: Vielen Dank für diese Einblicke.