Hedgework: Herr Mitchell, der ESG-Ansatz hat auch in der Hedgefondsbranche Einzug gehalten. Wie weit verbreitet ist er inzwischen?
Mitchell: Genau genommen ist der ESG-Gedanke in der Unternehmenswelt schon sehr viel weiter fortgeschritten, nicht zuletzt, weil die Kunden der Unternehmen dies erwarten. In der Hedgefondswelt ist er indes noch weniger ausgeprägt. Wir haben ein paar Rahmenbedingungen, die die Verbände vorgeschlagen haben. Aber es gibt auch noch reichlich Diskussionen, wie die Fonds das Thema konkret ausgestalten sollen. Oder, um es anders auszudrücken – uns fehlt noch so etwas wie das Best-Practice im Umgang mit ESG. Gleichzeitig bin ich aber sehr zuversichtlich, dass wir hier schon bald große Fortschritte sehen werden. Die Investoren wünschen das und viele Fondsanbieter, wie auch wir, arbeiten hart daran.
Hedgework: Was sind im Moment die größten Hindernisse?
Mitchell: Das ist zunächst die Frage, wie Stewardship in Hedgefonds integriert werden kann, in Fonds, die mit Derivaten arbeiten oder mit CFDs, die mehrfach gehebelt sind und so weiter. Wenn man beginnt, synthetisch zu investieren, dann verliert man beispielsweise die Stimmrechte, auf die es bei nachhaltigem Investieren ja unter anderem ankommt. Ein weiterer Punkt sind die ESG-Scores, mit denen Asset Manager bevorzugt arbeiten, die aber an sich schon recht umstritten sind. Hinzu kommt, wie diese Scores in einem Long/Short-Umfeld eingesetzt werden können. Sollen Manager also die besten Scores kaufen und die schlechtesten verkaufen? Oder sollen sie, wie bei Long-only-Investments, die schlechten Scores einfach ausschließen?
Hedgework: Sagen Sie es uns!
Mitchell: Meiner Auffassung nach sollten ESG-orientierte Hedgefonds long und short gehen. Aber sie müssen aufpassen, dass sie dabei die Faktor-Risiken nicht aus den Augen verlieren. Insbesondere, wenn hierfür verschiedene Sub-Manager beauftragt sind. Das ist ein Thema, in das wir sehr viel Zeit investieren.
Hedgework: Wie ist der Stand der Dinge?
Mitchell: Ob ESG-Faktoren wirklich „Alpha-Faktoren“ sind, die ihren Gegenstücken Value, Momentum, Quality und Low Volatility entsprechen, ist innerhalb der Anlegergemeinschaft nach wie vor umstritten. ESG-Skeptiker verweisen auf die fehlende Historie, unsaubere Rohdaten und Inkonsistenzen zwischen den Anbietern. Allerdings hat sich, trotz der anhaltenden Debatte, die Performance der ESG-Faktoren beispielsweise im Jahr 2019 gut entwickelt und Erträge erbracht, die Aufmerksamkeit verdienen. ESG-Champions verweisen daher auf eine sich entwickelnde Welt, in der Verantwortung und Nachhaltigkeit im Mittelpunkt stehen. So glauben auch wir, dass Verbraucher und Investoren zunehmend mit Unternehmen in Verbindung gebracht werden wollen, die ihre Umweltauswirkungen berücksichtigen, ihre Mitarbeiter gut behandeln und über starke Governance-Strukturen verfügen. Und, dass dies durch höhere Einnahmen und Gewinne und bessere Aktienkurse zu einem bedeutenden Einfluss auf die Geschäfte des Unternehmens führen wird. Beispielsweise haben die MSCI-Standardindizes im Jahr 2019 schlechter abgeschnitten als die MSCI ESG Leaders, die anhand der MSCI-eigenen ESG-Faktoren auf Aktienebene konstruiert werden und über Sektorgewichtungen verfügen, die auf den zugrunde liegenden Mutterindex abzielen und somit eine relativ sektorneutrale Sicht der ESG bieten.
Hedgework: Wie geht die Man Group hierbei vor?
Mitchell: Wir präferieren eine nuanciertere Sicht auf die Performance der ESG-Faktoren, die sich durch die Linse des proprietären ESG-Modells von Man Numeric ergibt, das auf 15 fundamentalen Säulen basiert. Darüber hinaus stellen wir sicher, dass unser ESG-Modell sektorneutral ist und sich auch gegenüber Faktoren wie Size, Value, Momentum oder Beta neutral verhält. Damit wollen wir sicherstellen, dass der ESG-Faktor-Investor nicht einfach irgendeinen anderen Faktor kauft und die beobachtete Performance damit nicht einfach ein Proxy für einen anderen gemeinsamen Faktor ist.
Hedgework: Welche Nachhaltigkeitskriterien stehen bei Ihnen im Vordergrund?
Mitchell: Skeptiker von ESG-Faktoren unterstellen oft, dass Governance der einzige produktive ESG-Faktor ist. Im Gegensatz dazu zeichneten wiederum die Renditen der ESG-Faktoren im Jahr 2019 ein anderes Bild. Hier schnitten Umweltfaktoren am besten ab, wobei Unternehmen mit geringer Kohlenstoffintensität stark belohnt wurden. In der sozialen Dimension belohnten die Investoren andererseits das soziale Bewusstsein, während die Transparenz der Aktionäre den besten Governance-Faktor darstellte. Alles in allem waren 14 der 15 ESG-Säulen für das Jahr positiv, was unserer Meinung nach an sich schon bemerkenswert ist und die allgemein positive ESG-Performance in diesem Zeitraum widerspiegelt. Vielleicht sollte ich noch ergänzen, dass es sich bei jeder der 15 ESG-Säulen von Man Numeric um unterschiedliche ESG-Konzepte handelt, die jeweils eine geringe Korrelation zueinander aufweisen. Es handelt sich dabei nicht einfach nur um leichte Variationen derselben Konzepte, sondern um orthogonale Faktoren, die unabhängige Ansichten über die Stärke der ESG eines Unternehmens zum Ausdruck bringen.
Hedgework: In Ihrem Ansatz kommt es sehr stark auf die Qualität der Daten an, die Sie verwenden. Andererseits haben Sie betont, dass die vorhandenen ESG-Scores vielfach umstritten sind. Welchen Weg gehen Sie hier?
Mitchell: Zunächst ist zu betonen, dass die Datenqualität für jeden quantitativen Investmentprozess von größter Bedeutung ist, ganz gleich, wie gut ein Modell ist, es ist dem Untergang geweiht, wenn es mit Daten schlechter Qualität gefüttert wird. Für unseren Ansatz bedeutet das, dass wir verlässliche ESG-Daten brauchen. Diese Daten sind in den letzten zehn Jahren gereift, und wir treten in eine Phase ein, in der sie sowohl eine lange Geschichte als auch eine breite Abdeckung haben, die sie für quantitative Investmentfirmen interessant machen. Im Gegensatz zu traditionellen quantitativen Faktoren, die etwa aus Jahresabschlüssen und Bilanzdaten gewonnen werden, sind ESG-Statistiken jedoch oft qualitativ, diskretionär und unreguliert. Tatsächlich haben die ESG-Daten, die wir von Anbietern erhalten, in der Regel eine kurze Historie und werden oft rückwirkend erhoben. Daher besteht die Herausforderung für einen quantitativen Manager darin, wie er diese unstrukturierten Daten in nützliche Erkenntnisse umwandeln kann.
Hedgework: Das bedeutet, um einen Long/Short-Ansatz mit ESG-Impact zu fahren, müssen Sie herausfinden, welche Unternehmen über einen hohen Score verfügen und welche schlecht zu bewerten sind. Wie trennen Sie die Spreu vom Weizen?
Mitchell: Das ist richtig. Wir sind der Meinung, dass wir, wenn wir uns die Zeit nehmen, die Nuancen der Methodik der einzelnen Anbieter zu verstehen und mit ihren Datenmakros richtig umzugehen, potenziell einen einzigartigen, Alpha-generierenden Datensatz aufbauen können. Unserer Ansicht nach können wir nur durch das Verständnis dessen, was jedes Datenelement zu messen versucht, und durch die Anwendung der richtigen quantitativen Instrumente an den richtigen Stellen relevante Erkenntnisse gewinnen, die uns helfen, unser Ziel zu erreichen, langfristige ESG-Investitionsaussichten zu ermitteln. Man Numeric hat also damit begonnen, zunächst die relevanten Anbieter auszuwählen, um anschließend die Ergebnisse der Auswertungen direkt in die entsprechenden Portfolios zu integrieren. Allerdings gibt es inzwischen Hunderte von ESG-Datenanbietern, sodass eine naive Vermischung all ihrer Daten unserer Ansicht nach keine aussagekräftigen Ergebnisse bringt. Aufgrund des subjektiven Charakters einiger ESG-Daten besteht unser Ansatz darin, die Datenanbieter auf die gleiche Weise zu verwenden wie Analystenmeinungen, das heißt, diese subjektiven Meinungen zu einem einzigen Score zusammenzufassen. Also haben wir rund ein Dutzend Anbieter ausgewählt und ausführlich getestet und schließlich in unseren strengen quantitativen Rahmen integriert.
Hedgework: Ist das nicht ein immenser Aufwand?
Mitchell: Den wir aber leisten müssen, wenn wir unserem Anspruch gerecht werden wollen. Es gibt große Unterschiede zwischen einzelnen Sektoren, der Größe von Unternehmen und auch hinsichtlich deren Veröffentlichungen. ESG an sich sowie auch das Reporting ist mit hohen Fixkosten verbunden. Große Ölfirmen beispielsweise haben oft einen höheren ESG-Reporting-Score als viele kleine Green-Tech-Firmen, weil sie über die Infrastruktur verfügen, um detaillierte ESG-Daten offenzulegen, während kleinere Firmen dies nicht tun. Macht dies einen Öl-Major "grüner" als einen kleinen Biokraftstoffhersteller? Das macht es zwingend erforderlich, dass wir sorgfältig mit den Unterschieden zwischen Industrie und Sektor umgehen, damit wir bei Querschnittsvergleichen nicht in die Irre geführt werden.
Hedgework: Und das zahlt sich aus?
Mitchell: Nach meiner bisherigen Erfahrung schon. Durch das Verstehen, Interpretieren und Zusammenstellen der uneinheitlichen, unordentlichen Daten können wir die handelsüblichen Variablen potenziell in ein nützliches und informatives Kauf- oder Verkaufssignal verwandeln.
Hedgework: Wie sieht die bisherige Erfolgsbilanz für den speziellen Long/Short-Ansatz der Man Group aus?
Mitchell: Wir fahren die Strategie jetzt etwa 12 Monate, was zu kurz ist, um eine endgültige Beurteilung abzugeben. Allerdings sind wir mit dem bisher erreichten sehr zufrieden. Und wir sind zuversichtlich, dass dies sich weiter bestätigen wird. So hat sich beispielsweise bewährt, dass wir die Long- und die Short-Seite symmetrisch gestaltet haben. Traditionelle Strategien sehen zumeist ein Übergewicht auf der Long-Seite vor und nutzen die Short-Seite allein, um das Risiko zu managen. Wir gewichten beide Seiten gleich. Zudem sehen wir ESG definitiv als unkorrelierten Faktor – und behandeln ihn auch so. Und vielleicht zum Abschluss, um zu betonen, wie wichtig der Bereich ist, haben wir einen eigenen CIO für ESG-Investments eingesetzt.
Hedgework: Besten Dank für diese Einblicke.