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Kommentar: Mit KI gegen die Inflation? 5 Gründe, die dafür sprechen

Die Schwankungen an den Kapitalmärkten liegen seit Zuspitzung des Ukraine-Konflikts oberhalb historischer Durchschnittswerte. Gleichzeitig steigen mit einer Teuerungsrate von zuletzt 7,3% inflationsbedingte Risikofaktoren. Dies wirft Fragen bei institutionellen Investoren auf. Kann KI (künstliche Intelligenz) Antworten liefern? Ein Ausblick.

Michael Günther

Mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der vor allem menschliches Leid bedeutet, sind zahlreiche wirtschaftliche Belastungsfaktoren – wie unter einem Brennglas – weiter verstärkt worden. Nach den Schockwellen Anfang März sahen wir zuletzt Kurserholungen und Seitwärtsmärkte. Das Inflationsthema hat sich angesichts explodierender Preise jedoch deutlich verschärft. Anders als in den USA, wo die lange Phase niedriger und negativer Zinsen gerade endet, ist in Europa eine Abwägung im Gange: Der Notwendigkeit einer Straffung der Geldpolitik zur Bekämpfung der Inflation stehen eintrübende Wirtschaftsaussichten gegenüber.

Welche Rolle könnte KI bei der Bewältigung dieser Fragestellungen spielen? Wir haben fünf aktuelle Herausforderungen skizziert, die professionelle Investoren derzeit zum Thema Datenalgorithmen mit ihren Vermögensverwaltern diskutieren.

1.       Der langfristige Sinkflug der Zinssätze war der Rückenwind für viele Anlageerfolge. Sind datengestützte Anlagestrategien auch auf der impliziten Annahme fallender Zinsen aufgebaut?
Nein. Richtig ist: Seit mehr als drei Jahrzehnten konnten ganze Generationen von Portfoliomanagern ihre Strategien auf der Annahme fallender Zinsen aufbauen. Damit sind sie aus zwei Gründen gut gefahren: Erstens aufgrund der ultralockeren Geldpolitik der Notenbanken. Zweitens gibt es, wie der Harvard-Professor Paul Schmelzing zeigt, tatsächlich einen historischen Trend in Richtung sinkender Durchschnittszinsen. Aus einer Periode von Negativzinsen kommend sind wir aktuell jedoch in einem Umfeld, das in Erwartung steigender Zinsen agiert. Die Kurse deutscher Bundesanleihen fallen. Wir erleben derzeit die stärkste Korrektur globaler Staatsanleihen seit mindestens Mitte der 80er Jahre. Die Rahmenbedingungen für Aktien- und Mischportfolios beziehungsweise long only-Strategien haben sich damit wesentlich geändert. Für KI-getriebene Strategien muss das aber nicht gelten: Wenn die nötigen Freiheitsgrade gegeben sind, lässt sich der Lernprozess gezielt so gestalten, dass die Modelle Chancen sowohl in steigenden als auch in fallenden Märkten identifizieren können.

2.       Sind Aktien auch im KI-Umfeld alternativlos?
Ja und nein. Unter den herrschenden Bedingungen ist es naheliegend, dass Aktien langfristig der wichtigste Core-Baustein traditioneller Portfolios sind. Auch unsere eigene KI-Anlagestrategie handelt, ohne einschränkende Branchen- oder Regionenschwerpunkte, neben Anleihen, Währungen und Volatilität auf globalen Aktienmärkten. Aber: Depots müssen – wenn Anleihen ihre ausgleichende Funktion im Portfolio nicht mehr erbringen – grundsätzlich unabhängiger werden von der Entwicklung der Aktienmärkte. Nicht nur Aktienstrategien untereinander, auch Anlageklassen wie gelistete Immobilien oder Private Equity weisen teilweise eine Korrelation von 0,8 oder mehr gegenüber europäischen und weltweiten Aktienindizes auf. Hier kann KI künftig noch mehr als eigenständige Anlagegattung ins Spiel kommen, die Handelsgelegenheiten an regulierten Börsenplätzen identifiziert und alternative Renditeströme liefert.

3.       Sollten Anleger, die bislang über die Long-Seite investiert sind, auch fallende Kurse verwerten?
Ja. Dort wo Staatsanleihen ihre Rolle als Gegenpart zu Aktien weitgehend verlieren, können Lösungen, die von steigenden als auch fallenden Kursbewegungen profitieren, zweckdienlich beigemischt werden. Dies gilt selbstverständlich nicht nur für KI, sondern auch für sonstige systematische Handelsstrategien. Maschinelle Intelligenz qualifiziert sich als Werkzeug in besonderer Weise. Dies ist vergleichbar mit der schnellen Analyse großer Datenmengen, wie sie erfolgreich in anderen Branchen eingesetzt wird, etwa in der Spracherkennung oder bei dynamischen Webanwendungen. KI kann die Flexibilität, um zwischen long- und short-Allokationen zu wechseln, entscheidend unterstützen, etwa mit der tiefen Durchdringung und Auswertung von Preistrends, historischen Kursmustern und relativen Wertentwicklungen. Zudem können auch nichtlineare Zusammenhänge und Wechselwirkungen des Marktgeschehens erfasst werden.

4.       Aktives vs. passives Investieren: Kann KI beides?
Ja. Die Einsatzgebiete in der Finanzindustrie können sich erstrecken von der Effizienzsteigerung administrativer Prozesse bis hin zur aktiven Unterstützung und Umsetzung von Anlageentscheidungen. Im Moment gewinnen Fragen nach Markttiming an Gewicht. Geldanlagen müssen zunehmend auf ein schnell änderndes Marktumfeld reagieren und sich entsprechend anpassen. Adaptive Steuerungsmöglichkeiten existieren für traditionelle mathematisch-computerbasierte Handelsansätze („Old Quant“), als auch für neue KI-Systeme. Beide lassen sich so programmieren, dass Positionierungen dynamisch angepasst werden. Investoren sollten vor der Wahl eines aktiven Investments darauf achten, ob der Anbieter mit seinem Leistungsversprechen auf steigende Marktphasen beschränkt bleibt oder zudem den Anspruch verfolgt, Trendbrüche zu erkennen und Absicherungsaufgaben in Szenarien mit fallenden Börsen zu übernehmen.

5.       Lässt sich die Psychologie aus den Anlageentscheidungen eliminieren?
Ja und nein. Die Kapitalmärkte basieren wesentlich auf Fundamentaldaten und sind stark beeinflusst von Zahlungsströmen, die in der Zukunft erwartet werden. Allerdings macht die Unsicherheit der Finanzmärkte viele Marktteilnehmer anfällig für emotionale Verhaltensweisen. So neigen Anleger etwa dazu, an einmal getroffenen Investmententscheidungen festzuhalten oder nur Nachrichten wahrzunehmen, die die eigene Marktmeinung stützen. Diesen „emotionalen Bias“ zu isolieren ist natürlich eine Paradedisziplin von KI, wenn das System entsprechend trainiert wird. Die objektive, nüchterne Auswertung von Wahrscheinlichkeiten ist eine Aufgabe, die ein Hochleistungsrechner besonders gut erledigen kann. Wir sehen daher in der objektiven, hypothesenfreien Evaluation des Marktgeschehens, losgelöst von langfristigen makroökonomischen Prognosen, ein technologisches Zukunftsfeld in der institutionellen Geldanlage.

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*) Michael Günther ist Entwickler und Portfoliomanager bei Tungsten TRYCON