Tragen wir zum Metathema Klimawandel noch einmal die wichtigsten Eulen nach Athen: Ja, der Klimawandel findet schon heute statt. Ja, unser Planet ist dabei, elementare Kipppunkte wie z.B. das Auftauen der grönländischen Eiskappe und der russischen Permafrostböden zu passieren, um mit Schwung in das Reich der Irreversibilität vorzustoßen. Und ja, alle Anstrengungen, das Leben und Wirtschaften der Menschheit klimaneutral zu gestalten, scheinen bisher zu langsam und zu halbherzig auszufallen.
Bedauerlicherweise kommt hinzu, dass nach wie vor nicht alle Menschen die Dringlichkeit dieser Einschätzung teilen. Sei es aus Unkenntnis, aus Selbstschutz oder auch, man muss das so deutlich anmerken, aus perfidem Gruppenegoismus. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an das Buch „Die Klimaschmutzlobby“ von Annika Joeres und Susanne Götze.
Hinzu gesellen sich einige Politiker und Journalisten, die sich, höflich ausgedrückt, lediglich mit kurzatmiger und -fristiger Perspektive dem Thema nähern. Die sich daraus ergebenden öffentlichen Diskurse führen zu sich wiederholenden, ermüdenden Spiegelfechtereien, stets begleitet von surrealem Theaterdonner, sprich Mediengetöse.
Die Zeit für konstruktive Erörterungen und seriöse Umbauplanungen wird knapper. Und die Planungen sollten sich eigentlich – blickt man einmal nur auf Deutschland - in ihrem Konkretisierungs- und Realisierungsgrad deutlich unterscheiden von den Wunschzetteln, Absichtserklärungen und Vakua, die sich in den meisten Programmen der im Bundestag vertretenen Parteien wiederfinden.
Die transeuropäische Energieinfrastruktur
Wie sieht nun aktuell der Status quo in Europa aus? Der Schlüsselsektor aller klimapolitischen Anstrengungen ist die Energiewirtschaft. Im Primärenergie-Mix sind fossile Energieträger nach wie vor hochprozentig vertreten, um Verbraucher direkt und indirekt mit wirtschaftlichen, teilweise lebensnotwendigen Gütern zu versorgen. Gleichzeitig ist der Energiesektor noch immer der größte Emittent von Treibhausgasen. Korrekturen am Energie-Mix sind so dringlich wie schwierig, zumal die bestehenden Energieinfrastrukturen fast immer auch eine internationale Dimension haben.
Das weiß auch die EU, und so gibt es seit dem Vertrag von Maastricht (1992) einen festen, ganzheitlichen Begriff mit dem Namen TEN-E (TEN-E =Trans-European Networks for Energy), der Überblick, Orientierung und seit 1996 auch gewisse Leitlinien zur europäischen Energieinfrastruktur anbietet.
Endgültig definiert und fixiert wurden die Transeuropäischen Netze (TEN), zu ihnen zählen auch die Verkehrs- (TEN-V) und Telekommunikationsnetze (TEN-Telekom), 2009 im Lissaboner Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Allen Netzen gemeinsam sind die Zielsetzungen, den Binnenmarkt weiterzuentwickeln, die Versorgung zu sichern, den sozialen Zusammenhalt zu stärken und den Umweltschutz voranzubringen.
TEN-E steht für die Energieversorgungsnetze der EU-Mitgliedstaaten, die in gemeinsamer Anstrengung harmonisiert, enger verknüpft, synergetischer genutzt und integrativer gestaltet werden sollen. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die sogenannte PCI-Liste (Projects of Common Interest, PCI), eine Liste mit Projekten, für die von unterschiedlicher europäischer Seite ein gemeinsames Interesse besteht. Diese Projekte werden alle zwei Jahre bewertet, priorisiert und gegebenenfalls beschleunigt durchgeplant; bisweilen unter Inanspruchnahme des europäischen Finanzinstruments Connecting Europe Facility (CEF).
TEN-E wird zur wichtigsten Baustelle der EU
Zu TEN-E gehören Strom-, Gas-, Erdöl-, Fernwärme-, Fernkälte-, CO2-Transport-Netze. Weitere konstituierende Komponenten sind Speicher für CO2, Wasserstoff, Erdgas und Strom. Im Rahmen der TEN-E-Verordnung Nr. 347, vom europäischen Parlament und Rat im April 2013 in Kraft gesetzt, um PCIs strukturiert und nach erprobtem Verfahren zu definieren und zu evaluieren, wurden neun Energieinfrastruktur-Korridore und drei -Themen priorisiert. Damit sollten Kräfte gebündelt und Abläufe effektiver gestaltet werden. Begleitet wurde diese Fokussierung mit entsprechenden Förderungen und finanziellen Anreizen. Doch die Realisierung der anvisierten Verbundziele fiel nicht immer befriedigend aus. Viele Projekte wurden von Kakophonie, Bürokratie und Lobby-Widerständen begleitetet.
Mit neuen beunruhigenden Zwischenmeldungen aus der Klimaforschung, der im Nachgang wenig zündenden Wirkung der Pariser Klimakonferenz (2015) und auch der zunehmenden Erkenntnis, dass die europäische Energieinfrastruktur gründlicher, „regenerativer“ umgebaut werden muss, kam jedoch zunehmend Unruhe in Brüssel auf. Die TEN-E-Verordnung Nr. 347 geriet ins Fadenkreuz einiger Parlamentarier und Verbände. Die im Juli 2019 neu gewählte und PR-versierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erkannte rasch Handlungsbedarf - und wohl auch eine attraktive Möglichkeit, sich nach umstrittener Hinterzimmer-Nominierung im neuen Amt zu profilieren.
Im Dezember 2019 legte die EU-Kommission schließlich einen Reformvorschlag vor, den „European Green Deal“. Die Oberziele: Ausgehend von einer maximal zulässigen Erwärmung in Höhe von 1,5 Grad, vereinbart im Pariser Klimaabkommen, sollen die Treibhausgas-Emissionen bis 2030 um 50-55% statt der geplanten 40% reduziert werden. Überdies soll Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent aufsteigen.
Die markantesten Änderungsvorschläge: Die TEN-E-Verordnung 347/2013 muss verändert werden. Die Liste der Projekte von gemeinsamem Interesse (PCI-Liste) wird ab 2023 keine fossilen Projekte mehr aufnehmen. Verstärkt Aufmerksamkeit sollen hingegen die Wasserstoffinfrastruktur (Fokus: „grüner Wasserstoff“) und die Netzanbindung der Offshore-Windparks erfahren. Zudem sind deutliche Verbesserungen in puncto systemische Integration für erneuerbare Energien (EE) und intelligente Netzwerktechnologien geplant.
Leuchtturmprojekte in Deutschland
Auf der noch aktuellen vierten PCI-Liste, in Kraft getreten im März 2020, befinden sich neben 32 Gas- und sechs Öl-Projekten auch einige prominente Stromnetz-Großprojekte mit deutscher Beteiligung. Zu ihnen zählen z.B.
• die Stromautobahn vom dänischen Endrup bis zum nordfriesischen Klixbüll,
• der North Sea Wind Power Hub mit Windenergieverteilkreuzen und landseitiger Power-2-Gas/Wasserstoff-Koppelung, grenzüberschreitend und eng vernetzt mit den Nordsee-Anrainern Deutschland, Niederlande und Dänemark,
• die Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungs-Leitungen (HGÜ) namens „SuedLink“ von Brunsbüttel nach Großgartach (Württemberg) und von Wilster nach Bergrheinfeld (Südfranken), die den Windkraft-Strom in den Süden transportieren,
• oder auch die nach dreijähriger Bauzeit seit April 2021 im Regelbetrieb befindliche HGÜ-Leitung „NordLink“ mit bis zu 1.400 MW Übertragungskapazität zwischen dem Wilster in Schleswig-Holstein und dem norwegischen Tonstad, die bei überschüssiger Windkraftenergie eine Nutzung skandinavischer Pumpspeicherkraftwerke erlaubt.
Im Dezember 2021 dürfte die EU-Kommission die fünfte PCI-Liste publizieren, dann sicherlich aufgrund des „Green Deals“ mit deutlichen Veränderungen gegenüber der vierten Liste. Fossile Energieträger werden wohl keine Rolle mehr spielen. Eine Ausnahme könnte allerdings Erdgas bilden. Denn Erdgas, obwohl auf breiter Front von grünen „Pressure Groups“ angefeindet, spielt nicht nur bei der Erzeugung von Wärme nach wie vor eine maßgebliche Rolle. Es wird auch als Einsatzstoff in der Chemieindustrie benötigt. Zudem ist Erdgas der fossile Energieträger mit der geringsten CO2-Emission. Dieses „kleinste fossile Übel“ wird bei schnellem und konsequentem Atomkraft- respektive Kohleausstieg wohl übergangsweise helfen müssen, die Grundlast zu sichern. Zumal der Ausbau der Erneuerbaren in Deutschland derzeit recht schleppend verläuft.
Wichtig bleiben auch Wartung und Erhalt des Gasnetzes. Dieses soll und wird eine elementare Rolle bei der Speicherung von Wasserstoff und Methangas spielen, was für die korrespondierenden Power-2-X-Konzepte von Bedeutung ist.
Ob sich dann auf der sechsten Liste im Jahre 2023 nur noch Gasprojekte mit erneuerbaren, dekarbonisierten Gasen befinden, bleibt abzuwarten. Angesichts der prekären Lage könnte sich die Ansicht durchsetzen, dass der durch jahrzehntelanges Abwarten und Verharmlosen äußerst kostenintensiv gewordene Kampf gegen den Klimawandel nur aus einer Position der ökonomischen Stärke heraus bestanden werden kann. Entsprechend müsse man zur Vermeidung von Blackouts und wirtschaftlichem Chaos Brückenlösungen wie Erdgas respektive Gaskraftwerke für gewisse Zeiträume akzeptieren, sie aber zum frühestmöglichen Zeitpunkt auch konsequent wieder ausgleisen.
Es geht um sehr viel Geld
Für all diese Umbaupläne werden enorme finanzielle Mittel der öffentlichen Hand bereitgestellt. So sollen 30% statt 20% des EU-Haushalts von 2021 bis 2027 in Klimaprojekte fließen, immerhin rund 550 Mrd. Euro. Weitere Mittel, etwa ein Drittel des 805 Mrd. Euro schweren Konjunkturpakets NextGenerationEU, welches das Corona-lädierte Europa wieder aufrichten soll, haben ebenfalls Klimabezug.
Gleichzeitig geht die EU davon aus, dass ihr finanzielles Engagement Vertrauen schafft und somit auch privates Kapital mobilisiert. Unterstützend soll dabei in den kommenden sieben Jahren das InvestEU-Förderprogramm wirken, das diverse Bürgschaften, Darlehen, Garantien unter anderem für Klimaschutzprojekte anbietet. Im Mittelpunkt stehen Projekte mit wissenschaftlich-technischem Charakter - eine potenziell wichtige Karte im Kampf um die Verlangsamung des Klimawandels bzw. um die Vermeidung desaströser Schäden durch extreme Wetterereignisse. Die Europäische Investitionsbank (European Investment Bank, EIB) wird dabei in gewohnter Form operativ tätig sein.
Umdenken bei den Institutionellen
Institutionelle Anleger sind schon vor geraumer Zeit auf Investment-Gelegenheiten rund um das Thema Infrastruktur, speziell „Energieinfrastruktur“, aufmerksam geworden. Doch die Sicht der Dinge hat sich dabei verändert. Sebastian Thürmer, Geschäftsführer des auf institutionelle Anleger spezialisierten Placement agents und Consultants artis Institutional Capital Management GmbH, erläutert: „Das Interesse institutioneller Anleger im Segment Infrastrukturanlagen hat sich in den vergangenen 24 Monaten deutlich verlagert. Noch vor wenigen Jahren waren Beteiligungsfinanzierungen im Verkehrssektor mit Prestigeprojekten wie Autobahnen gefragt. Heute fokussieren sich Institutionelle bei ihren Neuanlagen meist auf Energiethemen. Nachhaltigkeit ist dabei kein Werbeslogan sondern unbedingte Voraussetzung für ein langfristiges Investment. Wir stellen fest, dass sich dieser Trend weiter verstetigt.“
Die Dimensionen der Energiewende sind gigantisch. Die von der EU, der öffentlichen Hand für die Energiewende in Aussicht gestellten Finanzmittel wirken auf den ersten Blick äußerst üppig; erfahren jedoch rasch eine Relativierung, wenn man ihnen die kalkulierten Kosten gegenüberstellt. Nimmt man beispielsweise die Offshore-Energie, so sind nach dem Green Deal bis 2050 neue Windkraftanlagen im Küstenvorfeld mit einer Leistung von 300 GW und Meeresströmungsanlagen mit 40 GW geplant. Allein der Ausbau dieser Sparte, der Offshore-Energie, wird seriös mit satten 800 Mrd. Euro veranschlagt.
Thürmer sieht weitere enorme Kapitalbedarfe im Gefolge des Green Deals: „Das Potenzial des europäischen Energiesektors auf Sicht der nächsten zehn bis fünfzehn Jahren ist enorm, ob bei Stromnetzen, Nah- und Fernwärme, Elektromobilität, Energiespeicher oder Wasserstoff. Der Investitionsbedarf dürfte mehrere tausend Milliarden Euro ausmachen. Die öffentliche Hand kann das Volumen aufgrund vielfältiger Aufgaben und zunehmend hoher Verschuldung nicht stemmen. Sie muss sich darauf fokussieren, die Rahmenbedingungen zu setzen und privates Kapital anzulocken.“
Dieses Kapital wird vor allen Dingen von den Institutionellen erhofft, die in Anbetracht der Größenordnung und der zu erwartenden Rendite - entsprechend ausgerichtete Fonds gehen von einem IRR in Höhe von 5-6% aus - auch ihre traditionellen Anlegerrollen verändern oder erweitern könnten. Thürmer: „Noch vor wenigen Jahren war es eher unüblich, dass Versicherungen branchenfremde Unternehmen, beispielsweise Firmen in Strom- und Gasnetzbereichen, komplett übernehmen oder großvolumig in spezielle Energie-Infrastrukturfonds investieren. Heutzutage ist das nichts Außergewöhnliches mehr. Energieunternehmen generieren laufende Einnahmen, welche die Assekuranz gerade in der aktuellen und zukünftigen Zinssituation für ihre wiederkehrenden Verpflichtungen dringend benötigt.“